3. Tag, Samstag

 12

Wieder einmal hatte sie ihn am Samstagmorgen allein zu Hause sitzen lassen. Unter dem Vorwand, sie müsse fürs Wochenende einkaufen, war sie nach Basel gefahren. Dabei hätte sie das auch am Vortag erledigen können, sie hat schließlich sonst kaum etwas zu tun. Sie braucht lediglich im Haus ein bisschen aufzuräumen oder zu waschen, während er in der Werkstatt unter irgendwelchen Autos herumkriechen muss. Wenn es denn gerade ein Auto zum Reparieren gibt. In letzter Zeit lief das Geschäft ziemlich schlecht; die Wirtschaftslage war wohl schuld daran. Sogar seinen Mechaniker hatte er vor ein paar Monaten entlassen müssen. Und deshalb blieb jetzt auch die Dreckarbeit wieder an ihm hängen. Da darf man doch wohl erwarten, dass die Frau wenigstens das Haus in Ordnung hält und das Essen pünktlich auf den Tisch bringt!

Hatte sie doch letzte Woche tatsächlich vorgeschlagen, sie könnte sich einen Aushilfsjob oder eine Teilzeitstelle suchen, im Büro vielleicht, das habe sie schließlich gelernt. So könnte sie ein bisschen etwas dazuverdienen. So nannte sie das: etwas dazuverdienen! Wie wenn er nicht in der Lage wäre, allein für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Das wäre ja noch schöner. Da kann man sich das Geschwätz der Nachbarn schon vorstellen. Nein! Dazu würde er es nicht kommen lassen. Und zum Überfluss hatte sie noch scheinheilig angefügt, dass er vielleicht dann im Haushalt auch einmal etwas mithelfen müsste. Er arbeitete den ganzen Tag hart in der Werkstatt und sollte dann auch noch abwaschen oder staubsaugen oder sonst etwas! Na, das hatte er ihr aber schnell ausgetrieben. Sie will doch bloß noch mehr Zeit in ihrem Garten verbringen können. Ja, ihr Garten! Der ist ihr wichtiger als ihr Mann. Den Haushalt vernachlässigen, das Essen anbrennen lassen, nur weil irgendein Gestrüpp verarztet werden musste. Und dann lässt sie ihn auch noch hier sitzen, wenn man endlich einmal Zeit hätte, schön zusammen zu plaudern. Wenn sie Mal nicht in den Garten kann, weil das Wetter einfach zu schlecht ist, findet sie schnell einen Vorwand, um nicht mit ihm zusammen sein zu müssen. Hoffentlich kommt sie wenigstens heute pünktlich nach Hause. Er hatte dem Polizisten, der vor etwa einer Stunde anrief, gesagt, sie wäre etwa um halb zwölf zurück. Und jetzt läutet auch noch die Haustürglocke! Das ist sicher eine dieser unmöglichen Nachbarinnen, die den neuesten Klatsch austauschen will. Na, die wird was zu hören bekommen.

Aber vor der Tür stand ein triefend nasser, jüngerer Mann mit Mantel, Hut und zwei großen Koffern.

»Guten Tag, bitte entschuldigen Sie die Störung«, sagte er freundlich.

 

Die beiden Polizisten falteten ihre nassen Regenschirme zusammen und bestiegen den Überlandbus. Tanner war sichtlich missgestimmt.

»Wenn Sie gestern unseren Dienstwagen nicht zu Schrott gefahren hätten, bräuchten wird uns keine nervige, halbstündige Busfahrt nach Großauen anzutun. Wir wären in einem Drittel der Zeit bei dieser Frau Meier.«

»Sie haben mich beim Manövrieren abgelenkt«, druckste Grathwohl.

»Ein guter Autofahrer lässt sich nicht ablenken«, konterte der Ermittler.

»Aber mein Fehler ist es nicht, dass unsere Wartungsleute am Freitag bereits um vier Uhr Feierabend machen. Und für die Sparmaßnahmen der Behörden bin ich auch nicht verantwortlich. Die sind schuld, dass keine Ersatzfahrzeuge zur Verfügung stehen.«

»Gut, lassen wir das jetzt. Wir sollten die Fahrt besser zur Vorbereitung unserer Befragung von Frau Meier nutzen.« Tanner schluckte schwer und fuhr mit belegter Stimme fort. »Ich wollte mich übrigens wegen meines Verhaltens Ihnen gegenüber gestern entschuldigen. Ich habe sie vor den anderen mehrmals übertrieben hart kritisiert. Ich war leider in einer miserablen Stimmung und habe Sie als Ventil missbraucht.«

Grathwohl schluckte ebenfalls schwer. »Ja, ich war zuerst sehr deprimiert.«

»Und dann?«

»Peter Diener hat mir erzählt, was Ihnen so zu schaffen macht.«

»Ach? Und was macht mir denn angeblich zu schaffen?« Tanner schaute seinen Assistenten lauernd an.

»Sie seien nie über den gewaltsamen Tod ihrer Freundin hinweggekommen, meint er, und verlören deshalb manchmal etwas ... äh ... die Übersicht.«

Tanner schaute Grathwohl stechend in die Augen. Dann entspannte er sich etwas. »Na wie dem auch sei, ich entschuldige mich also wegen der zu harten Kritik. Aber das mit dem Auto, das verzeihe ich Ihnen nicht so schnell.«

 

»Was wollen Sie«, schnauzte Herr Meier.

»Darf ich Ihre Aufmerksamkeit ein paar Minuten für die Demonstration einer revolutionären Weltneuheit beanspruchen?«, fragte der Mann weiter. Sein dunkler Mantel war durchnässt, auch die beiden Koffer waren nass, und hatten breite Regentränen auf den Seiten.

»Nein, danke. Ich ...«

»Es handelt sich um einen völlig neuartigen Staubsauger«, fuhr der Vertreter unbeirrt fort.

»Da müssten Sie sowieso mit meiner Frau reden, wenn sie denn wieder einmal hier sein sollte.«

»Ojeh! Und ich hatte schon gehofft, dass Sie nicht zu denjenigen Männern gehören, welche die verantwortungsvolle Aufgabe des Staubsaugens leichtfertigerweise einer Frau überlassen«, hakte der Vertreter ein.

»Nun ja ...«, staunte Herr Meier.

»Denken Sie nur an die zahllosen Kleinstlebewesen, die sich im Flor eines unzureichend gereinigten Teppichs ungehindert vermehren können. Diese sind - neben anderem - verantwortlich für viele der heutzutage immer häufiger auftretenden Allergien. Bei unsachgemäßer Reinigung wird der haltlosen Vermehrung dieser Mikropopulation keinerlei Einhalt geboten.«

»Ich wusste nicht ...«

»Leider messen gerade Frauen diesem Umstand viel zu wenig Bedeutung zu. Dies haben groß angelegte Studien in Amerika und Europa eindrücklich belegt. Deshalb wenden wir uns auch ausschließlich an Männer, denn sie sind in der Regel profund über die Mikroben- und Milbenproblematik informiert.«

»Ich habe meiner Frau immer wieder gesagt ...«

»Sehen Sie. Ich wusste, dass wir uns auf gleicher Ebene unterhalten können. Sie wären also an einer Vorführung unseres neuen Staubsaugermodells HOMBRE2000 interessiert? »Hombre« kommt übrigens aus dem Spanischen und bedeutet »Mann«. Und dass die Spanier ja noch richtige Männer sind, die sich von ihren Frauen nicht dauernd dreinreden lassen, das wissen Sie natürlich«, zwinkerte der Vertreter.

»Ja? ... selbstverständlich ... äh, gut ... bitte, treten Sie doch ein.«

 

Tanner las in seiner Ecke des Busses den Leitartikel im BLATT. Der beschäftigte sich natürlich mit dem Mord an Arne Fäh. Es wurde viel spekuliert, Drogen- und Dopinggeschichten angedeutet, über Schiebung von Fußballspielen vermutet und auch der Hinweis auf ein außereheliches Verhältnis Fähs fehlte nicht. Ganz zuletzt kam schließlich die unvermeidliche Kritik an der Ermittlungsbehörde.

»Das BLATT beginnt die Klingen gegen uns zu wetzen. Wenn wir nicht bald Resultate liefern, wird die Kritik an unserer Arbeit immer mehr zunehmen. Damit werden wir wohl leben müssen, fürchte ich. Wenigstens haben sie den Zeugenaufruf abgedruckt, den unsere Presseabteilung gestern an die Medien geschickt hat.

Der Assistent zuckte mit der Schulter und deutete auf eine Karte des Busnetzes, die er studierte. »Von der Haltestelle bis zu Frau Meiers sind es noch gut zehn Minuten zu Fuß.«

»Auch noch zehn Minuten gehen!«, knirschte der Ermittler und schaute seinen Assistenten finster an. »Es gibt doch zwei Haltestellen in Großauen. Liegt die andere nicht näher?«

»Leider nicht. Der Weg ist wahrscheinlich genau gleich lang. Meiers wohnen ziemlich abseits der Hauptstraße.«

Kurz darauf hielt der Bus an der ersten Haltestelle von Großauen. Die Polizisten stiegen aus und begannen ihre Regenschirme aufzuspannen. Das Klappgestänge von Tanners schwarzem Taschenschirm faltete sich immer wieder auf die falsche Seite, bis ihn der mittlerweile bereits feucht gewordene Tanner wütend in den Abfallkorb des Wartehäuschens stopfte. Er wandte sich seinem Begleiter zu, dessen bunter Schirm längst selbstbewusste Farbe in den grauen Samstagvormittag brachte und fragte drängend: »Sie haben doch einen Zweiplätzer, oder?«

Der Assistent antwortete mit einem unterdrückten Grinsen: »Selbstverständlich können Sie sich unterstellen. Ich lasse doch keine Anhalter im Regen stehen.«

 

Der Vertreter trat ein. Meier nahm ihm den nassen Mantel ab und hängte ihn an die Garderobe. Er führte den Vertreter in das Wohnzimmer des kleinen Häuschens. Dieser öffnete einen seiner Koffer und entnahm ihm eine Plastiktüte mit Stofffetzen und Fasern. Er begann, diese auf dem Teppichboden zu verteilen.

»Ich beginne meine Präsentation mit dem üblichen Aufsaugen von Flusen und Fasern, um Ihnen zu zeigen, dass der neue HOMBRE2000 die Standardaufgaben eines Staubsaugers spielend meistert. Anschließend werde ich ihnen dann die wirklich überwältigende Kraft dieses revolutionären Gerätes anhand eines eindrücklichen Versuches demonstrieren.«

Er öffnete den zweiten Koffer, der den Staubsauger enthielt.

»Das ist aber doch ein recht alter Apparat«, bemerkte der Hausherr erstaunt.

»Aaah! Ich hoffte, Sie würde das topmoderne Retro-Design unseres neuen HOMBRE2000 ansprechen. Praktisch allen Männern sagt dieser spartanisch-archaische Look mit den aufwendig patinierten Chromstahlrohren auf Anhieb zu.«

Er steckte das Kabel des Saugers in die nächste Steckdose und begann, die ausgestreuten Fasern und Fetzen aufzusaugen, was dem Gerät tadellos gelang.

»Sie sehen, das Aufnehmen solch schwieriger Partikel bereitet dem HOMBRE2000 sogar bei Normalbetrieb keinerlei Probleme.« Nachdem er den gesamten Teppichboden sorgfältig gesaugt hatte, schaltete er das Gerät aus.

»Wie gesagt, das kann praktisch jeder andere Staubsauger auch. Und das genügt eben nicht für eine wirksame Bekämpfung der Teppichmikroben. Deshalb zeige ich Ihnen jetzt, wie unser Gerät eine wirklich schwierige Aufgabe meistert.«

Mit einem verheißungsvollen Lächeln entnahm der Vertreter dem zweiten Koffer einen schmutzigen grünen Gummistiefel. Seine Sohle war voll frischem, rötlich braunem Lehm. Mit einem Augenzwinkern stellt er den Stiefel auf den Teppich und drückte ihn kräftig an. Ungläubig sprang Meier herbei.

»Sind sie wahnsinnig? Sie ruinieren unseren fast neuen Teppich, ich ...«

»Keine Sorge«, unterbrach ihn der junge Mann, die linke Hand zu einer beschwichtigenden Geste erhoben. »Unser HOMBRE2000 wird Ihren Teppich mit seiner Spezialfunktion »Superboost« sogleich retten. Und wenn Sie das gesehen haben, werden Sie nicht mehr zweifeln, dass dieses Gerät der Milbenplage Meister wird.« Der Hausherr nahm zögernd wieder in seinem Sessel Platz.

Der Vertreter nahm den Sauger zur Hand und näherte sich Herrn Meier. »Hier. Der Einschaltknopf weist neben der normalen »Ein«-Stellung die Position »Superboost« auf. Zum Lösen von solch schwierigen Aufgaben schalten Sie den Sauger zunächst normal ein und gehen dann auf die zweite Position. Ich zeige es Ihnen.«

Er stellt den Sauger auf den Boden vor dem Lehmfleck ab und wollte eben einschalten, als er zögerte und zum Hausherrn schaute. »Oder möchten Sie es gleich selbst versuchen? Möchten Sie dieses Gefühl unbändiger männlicher Urkraft in Ihren Händen spüren?«

»Ich, ... also eigentlich ... na gut. Geben Sie her.«

»Halten Sie das Gerät hier direkt am Chromstahlrohr. Halten Sie es kräftig mit der rechten Hand, denn es ist ein Gerät für richtige Männer! Dann schalten Sie mit der Linken den Motor ein.« Meier tat, wie ihm geheißen. Als der Sauger lief, forderte ihn der Vertreter auf, den Schalter nun auf »Superboost« zu stellen. Meier gehorchte wieder und erhielt einen starken Stromstoß. Sein kräftiger Griff verhinderte, dass er das Chromstahlrohr loslassen konnte, die Finger krampften sich im Gegenteil noch stärker darum. Er wurde vom elektrischen Strom wie wild geschüttelt. Seine zuckenden Beine warfen ein kleines Tischchen um, auf dem das Telefon stand. Der Vertreter sah interessiert zu, als der andere zu Boden stürzte, wo sich die wilden Zuckungen fortsetzten. Als es schließlich betäubend nach verbranntem Fleisch zu stinken begann, ging er zur Steckdose und zog den Stecker heraus.

 

Die Straße, an der das gesuchte Haus lag, machte zunächst eine leichte Biegung nach rechts, um dann etwa zweihundert Meter fast schnurgerade zu verlaufen, bis sie eine andere Quartierstraße kreuzte. Gesäumt wurde sie auf beiden Seiten von schmucken Einfamilienhäusern verschiedenster Bauart, aber alle mit liebevoll gepflegten Gärten. Nur ganz am Ende der Straße stand eine alte Villa in einem Park mit hohen Bäumen.

»Ein richtiges Kleinbürgergetto«, meinte Tanner geringschätzig.

»Ich bin in einem ganz ähnlichen Quartier aufgewachsen.«

»Wo immer peinlich darauf geachtet wird, dass alles perfekt in Ordnung ist, damit kein Nachbar gestört wird und wo man umgekehrt entschlossen beobachtet, ob eben dieser Nachbar sich genauso an die zahlreichen ungeschriebenen Quartiergesetze hält?«, fragte der Ermittler provozierend.

»Wir sind übrigens nicht die einzigen, die sich bei diesem Wetter zu Fuß ins Freie wagen.« Grathwohl deutete auf eine dunkel gekleidete Gestalt, die etwas mehr als hundert Meter vor ihnen herging und zwei große Koffer in den Händen trug. Den Kopf bedeckte ein breitkrempiger Hut.

Tanner zuckte uninteressiert mit den Schultern.

Plötzlich hielt die Person an und stellte die beiden Koffer ab. Verwundert beobachteten die beiden Polizisten, wie sie den rechten Arm in gebeugter Haltung über den Kopf hob und sich dann mit geradem Rücken, in der Hüfte abknickend, nach vorn beugte. Nach einem kurzen Moment richtete die Person sich wieder auf, ließ die Rechte langsam sinken, ergriff die Koffer und setzte ihren Weg fort.

»Da sitzt wohl eine Schraube locker!«, spekulierte Grathwohl staunend. Er musste den Schirm schnell fester fassen, weil eine plötzliche Windböe ihn wegzureißen drohte.

»Vielleicht das Dorforiginal«, spekulierte Tanner nur halb interessiert.

»Das Dorforiginal?«, zweifelte der Assistent. »Na, einen Knall scheint er jedenfalls zu haben. Nur schon, dass er bei diesem Wetter ohne Schirm unterwegs ist.«

Wenig später verschwand die dunkle Gestalt an der Kreuzung und die Polizisten suchten Frau Meiers Haus. Dies war nicht einfach, denn in diesem Dorf waren die Liegenschaften nicht fortlaufend nummeriert, sondern nach der Feuerversicherungsnummer. Sie mussten die Hausnummer jedes einzelnen Gebäudes suchen und abchecken.

»Hier ist es«, teilte der Assistent mit und staunte über den Garten des Häuschens. »Bei diesem Anblick kann man glatt das miese Wetter vergessen.«

Tatsächlich entfaltet sich hinter einer niedrigen Tuyahecke ein Garten, wie niemand ihn im November für möglich halten würde. Sattgrüne Rasenflächen gliederten ihn in einzelne Farbbereiche. Plattenwege durchzogen in lockerem Schwung das Gras. Sträucher in allen Formen, viele davon immergrün, säumten die Grundstücksgrenzen oder bildeten luftige Grüppchen.

Die Polizisten folgten einem Plattenweg zur Tür des schmucken Häuschens. Es war zweifellos eines der älteren in diesem Quartier, aber einwandfrei unterhalten. Die kleinen Fenster von Erd- und Dachgeschoss wurden von dunkelgrünen Läden umrahmt. Die eichene Eingangstür war durch ein kleines Vordach geschützt.

Grathwohl betätigte die Hausglocke. Nochmals, nachdem niemand öffnete. Warten. Plötzlich fiel dem Assistenten etwas auf:

»Herr Tanner, die Tür ist nur angelehnt.« Dieser vergewisserte sich schnell und verdrehte dann resigniert die Augen.

»Dann läuft es jetzt wohl so wie in diesen Kriminalfilmen ab: Die Polizisten oder Detektive oder Geheimagenten oder wasweißich spüren sofort, dass hinter der Tür etwas faul ist. Wobei sie es wahrscheinlich nur deshalb merken, weil jetzt die übliche unheilschwere Filmmusik einsetzt. Sie ziehen jedenfalls mit einer fließenden Bewegung ihre Pistolen aus den Schulterhalftern und gehen in die Hocke, hinter dem Türrahmen Deckung suchend.« Tanner machte pantomimisch mit, was er schilderte, war aber immer darauf bedacht, den Schutz von Grathwohls Regenschirm nicht zu verlassen. »Sie stoßen die Tür auf und dringen im Sprung ins Haus ein. Mit katzengleichen Bewegungen untersuchen sie Raum für Raum, die Pistolen immer im Anschlag. Wenn sie dann fast alle Räume durchsucht haben, beginnen sie an einen Fehlalarm zu glauben. Sie richten sich langsam auf, die Musik wird leiser und setzt dann ganz aus. Sie betreten den letzten Raum und - wumm - da liegt die grässlich zugerichtete Leiche. Jetzt fällt den Geheimagenten plötzlich ein, dass sie auf dem Weg zum Tatort eine auffällige Person gesehen haben, die von hier hätte gekommen sein können, schalten blitzschnell, laufen los und versuchen die Person einzuholen. Die Jagd geht über Straßen, durch Gärten, über Zäune ...« Tanner verdeutlichte mittels Gesten die Topografie des imaginären Geländes, »... sie verlieren den Verdächtigen aus den Augen, wissen nicht wie weiter, dann sehen die gesuchte Person wieder, bereits in der Ferne, rennen wieder los, holen auf, aber am Schluss entkommt der Verdächtige wegen irgendeines blödsinnigen Zufalles dann doch.« Er ließ die Arme ergeben fallen und wandte sich dem ehemaligen SEK-Mann Grathwohl zu.

»Bitte nach Ihnen.«

Sofort zog der junge Polizist mit einer fließenden Bewegung seine Pistole aus dem Schulterhalfter und ging in die Hocke. Er stieß mit der linken Hand die Haustür auf, hinter dem Türrahmen Deckung suchend. Mit einem Sprung drang er in das Haus ein, die Pistole im Anschlag. Der Ermittler beobachtete, was sein Assistent offenbar noch vom Sondereinsatzkommando her beherrschte. Dann trat auch er ein. Katzengleich huschte der Assistent zum ersten Zimmer, sprang in den Raum, ging in eine tiefe Hocke. Die Pistole immer noch fest im Anschlag, zielte er hinter die geöffnete Zimmertür. Nach ein paar Sekunden richtete er sich zögernd auf, den Blick auf den Boden gerichtet. Der Ermittler nahm einen Ekel erregenden Geruch war. Langsam ließ Grathwohl seine Pistole sinken und schaute zu Tanner. Der murrte trotzig vor sich hin. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Leichen liegen nie bereits im ersten Zimmer.«

»Ihr Dorforiginal!«, stieß Grathwohl hervor. »Wäre es nicht möglich, dass es von hier kam und uns hierzu etwas sagen kann?«

»Los, hinterher!«, befahl Tanner.

Sie rannten aus dem Haus, durchquerten den Garten, übersprangen das Gartentörchen, bogen links ab und hetzten die Straße hinunter, in jene Richtung, wohin das vermeintliche Dorforiginal verschwunden war. Sie kamen an die Kreuzung, hielten an und spähten in alle Richtungen. Die gesuchte Person war nirgends zu sehen. Nach kurzem Überlegen entschied sich Tanner für die nach links führende Quartierstraße. Die beiden Polizisten rannten los. Der Ermittler schimpfte wieder.

»Das habe ich nur Ihnen zu verdanken. Wenn Sie richtig parkieren könnten, bräuchten wir nicht so zu laufen.« Nach einer leichten Rechtskurve konnten sie in etwa dreihundert Metern Entfernung die zweite Bushaltestelle von Großauen erkennen. Das Wartehäuschen lag direkt am Ortsausgang, wo die Quartierstraße in die Hauptstraße mündete. Gegenüber lag eine frisch eingezäunte, unbenutzte Weide. An der Bushaltestelle war eine wartende, dunkel gekleidete Gestalt zu erkennen, die zwei Koffer neben sich stehen hatte. Gerade tauchte auf der Hauptstraße von links her ein Bus auf. Er begann, zur Haltestelle einzubiegen. Als die beiden Polizisten dies sahen, beschleunigten sie noch mehr und rannten nun so schnell sie konnten.

Der Bus erreichte die Haltestelle, hielt an und öffnete die Türen. Die Polizisten waren vielleicht noch etwa einhundertfünfzig Meter entfernt, als aus der gleichen Richtung wie der Bus eine Kuhherde auftauchte. Die Tiere schienen aufgeregt zu sein und drangen in einem schweren schaukelnden Trab, der ihre vollen Euter hin und her schwingen ließ, in die Quartierstraße ein. Zwei aufgebrachte Hirten hasteten hinterher und versuchten, die Herde mit lauten Rufen, Flüchen und Stockhieben unter Kontrolle zu bringen. Die Kühe verteilten sich verwirrt auf der Straße. Der Mann mit den zwei Koffern stieg derweil in den wenig besetzten Bus. Die Polizisten erreichten die dampfende Kuhherde und versuchten sie zu durchqueren. Doch die massigen Wiederkäuer standen Körper an Körper, es war kein Durchkommen. Der unbeschreibliche, ja geradezu körperliche Geruch der regennassen Tiere schien eine eigene Mauer gegen die Polizisten aufzubauen. Einer der Hirten brüllte die Polizisten an. »Können sie nicht warten? Der Bus hat meine Kühe schon genug aufgeregt. Sie machen die Viecher noch vollends nervös!«

Der Assistent glitt auf einem Ausdruck der rindlichen Nervosität aus, rappelte sich hoch und versuchte, die Situation zu klären.

»Wir müssen den Bus erwischen, weil dort ...«

»In zwanzig Minuten geht der nächste, oder wollen sie lieber zertrampelt werden?« In diesem Augenblick schloss der Bus seine Türen. Er begann zu blinken.

Ungeachtet der Einwände des Hirten schrie der Ermittler seinen jungen Kollegen an. »Vorwärts, wir müssen durch.« Mit doppelter Kraft versuchte er sich einen Weg durch die Herde zu bahnen. Als sich jedoch immer mehr Rinderaugen in stummer Drohung auf ihn richteten und allmählich ein dumpfes Muhen aus tiefen Kuhkehlen zu steigen begann, ließ er in seinen Bemühungen nach.

Grathwohl versuchte in der Zwischenzeit, sich einen Weg über das benachbarte Grundstück zu bahnen. Er überquerte im Hechtsprung eine Buchsbaumhecke, rollte auf dem dahinter liegenden englischen Rasen ab, überquerte ihn, trat in ein mit Tannenreisig abgedecktes Blumenbeet und überkletterte blitzschnell einen etwa zwei Meter hohen Holzzaun. Er landete auf einem weiteren liebevoll gepflegten Rasenstück, das durch eine Haselnusshecke von der angrenzenden Hauptstraße getrennt wurde. Von dort waren es kaum noch dreißig Meter bis zur Bushaltestelle, wo der Bus gerade gemächlich losfuhr. Schon meinte der Polizist freie Bahn zu haben, als er zu seiner Rechten plötzlich einen zähnefletschenden Rottweiler bemerkte. Er bremste hastig, rutschte aus, fiel hin, rappelte sich verzweifelt hoch und flüchtete zurück über den eben überkletterten Holzzaun. Nur knapp entkam er den Zähnen des vierbeinigen Wächters. Hinter dem Zaun erwartete ihn dafür eine erboste Hausfrau, um ihn wegen des zertrampelten Beetes zur Rede zu stellen. Die scharfe Gartenhacke und ihr entschlossener Gesichtsausdruck überzeugten ihn, dass eine weitere Flucht sinnlos war. Unsicher lächelnd trat er auf sie zu und suchte in der Jackentasche nach seinem Ausweis.

Der Bus beschleunigte derweil kräftig.

Tanner nahm sein Mobiltelefon hervor und rief in der Zentrale an. Er erteilte die Anweisung, einen Streifenwagen hinter dem Bus herzuschicken. Jeder tropfnasse, dunkel gekleideter Mann sei umgehend festzunehmen. Dann bestellte Tanner ein Team der Spurensicherung, eine Ambulanz und den Polizeiarzt zum Haus der Meiers.