2. Tag, Freitag

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Das Kaffeehaus an der Steinenvorstadt war gut besucht. Es war vor etwas mehr als drei Jahren anstelle eines chinesischen Restaurants entstanden. Seine Lage unweit vom Barfüßerplatz machte es für die Einkaufenden sehr attraktiv.

»Geht sonst noch jemand zur Beerdigung?«, fragte Karla und drückte mit dem Löffel den Teebeutel in der Tasse aus.

»Ich finde, wir sollten alle gehen. Das sind wir Helga doch schuldig«, meinte Sophie leise. Dabei stach sie nachdenklich mit der Kuchengabel in ihre Crèmetorte.

Marianne setzte ihre Kaffeetasse ab, schluckte schnell und fuhr mit der linken Hand durch ihre kurzen, hellrot gefärbten Haare. »Das war doch auch bloß so ein Macho, der die Frauen ausgenutzt hat. Einer wie der betrügt seine Frau, wann und wo er nur kann.«

»Wie kannst du so etwas bloß sagen«, meinte Karla traurig, »schließlich ist er tot.«

»Macht ihn das zu einem besseren Menschen? Er hat sicher vielen seiner Geschlechtsgenossen Hörner aufgesetzt.«

»Hörner aufgesetzt - ha, was die Kerle für Ausdrücke dafür haben, dass ein anderer ihr Betthäschen vögelt. Naja, nun ist er auch gewissermaßen gehörnt worden.«

»Also, ich war total down, als ich das gecheckt habe«, bemerkte Anja, die Jüngste in der Runde. »Helga war doch krass verknallt in ihn.«

»Also, ich glaube nicht, dass er Helga betrogen hat«, meinte Karla. »Sie hat immer so von ihm geschwärmt, dass er ihr Blumen brachte, sie zum Essen ausführte ...«

»Und nicht zu selten, offenbar. In letzter Zeit hat sie ordentlich zugelegt«, warf Herta ein, und ließ ein glockenhelles Lachen folgen, das ihre großzügigen Körperformen zum Wogen brachte.

»Schenkte er ihr nicht kürzlich eine prachtvolle Jacht?«, fragte Martina in gepflegter Aussprache und strich den Rock ihres eleganten, grauen Deux-Pieces zurecht. »Da hatte sie doch eine veritable Freude ...«

»Mein Ex hat mir auch immer Blumen gebracht, nachdem er es mit Claudia, meiner besten Freundin getrieben hatte«, warf Marianne kauend zwischen zwei Bissen ihres belegten Brötchens ein. »Glaub mir, alles nur schlechtes Gewissen. Der hat irgendeine Schlampe flachgelegt und dann Helga die Jacht gekauft. Genau wie mein Ex - bloß konnte der sich nur ein paar Tulpen leisten.«

»Wann ist eigentlich die Beerdigung?«, fragte Elsbeth, die bisher geschwiegen und sich ihrem grünen Salat gewidmet hatte.

»Die Bullen wollen ihn doch erst noch obdu ... Dingsbums«, sagte Anja und fuhr entsetzt fort. »Boah eh, stellt euch vor, die zerfleddern voll seinen taffen Body, seine krassen Waden, seine ...«

»Diese krassen Waden hättest du wohl gern einmal in einem deiner Aerobic-Kurse gesehen, nicht wahr«, stichelte Elsbeth.

»Und du hättest sie in deinem Wellnesscenter sicher fett gern massiert und mit Algen und Schlamm beschmiert«, konterte Anja.

Marianne grinste böse. »Hoffentlich schneiden sie ihm sein bestes Stück nicht ab. Bringt jetzt nichts mehr, früher wäre besser gewesen ...«

»Ach was, Helga hatte sicher auch ihren Spaß damit«, widersprach Herta und ließ wieder ihr glockenhelles, busenwogendes Lachen hören.

»Denkt bloß, was die arme Helga jetzt alles durchmachen muss. Die von den Zeitungen und vom Fernsehen sind sicher hinter ihr her und fragen, fragen, fragen. Und machen Fotos!« Karla tunkte ein Croissant in ihren Pfefferminztee. Zum Abbeißen beugte sie sich über ihre Tasse und hielt mit der Linken ihre geraden, schulterlang geschnittenen, brünetten Haare fest, damit sie nicht in den Tee hingen.

Elsbeth stimmte zu. »Wir sollten sie besuchen gehen und fragen, ob wir ihr irgendwie helfen können.« Dabei putzte sie mit einer Papierserviette Salatsoßenreste von den Lippen. Mit einem Schwung des Kopfes warf sie ihre langen blonden Haare über die linke Schulter. »Was mir aber einfach nicht aus dem Kopf will ... Da sind wir doch gestern mit Helga zusammen hier gesessen, haben geplaudert, waren lustig und ... und in dieser Zeit wird ihr Mann grausam ermordet.« Auf ihre manikürten Finger schauend fuhr sie fort. »Man ahnt nichts davon, fühlt nichts Außergewöhnliches und später erfährt man es aus der Zeitung.«

Die groß gewachsene, etwas knochige Karla sprang von ihrem Stuhl auf. »Du hast Recht! Wenn einer meinem Peter jetzt gerade etwas antun würde - ich muss ihn gleich anrufen.« Sie drehte sich um und hetzte zum Telefon, das links hinter der Theke des Kaffeehauses hing.

Hinter vorgehaltener Hand flüsterte Herta. »Wer tut schon einem milchgesichtigen Buchhalter etwas an?« Und wieder erklang das Körperbeben auslösende Lachen.

»Herta! Über deine billigen Bemerkungen muss ich mich immer wieder wundern«, meinte Martina distanziert. »Von einer Psychologieprofessorin würde ich differenziertere Stellungsnahmen erwarten.«

Daraufhin wiederholte sich das busenwogende Glockenlachen. »Du fändest es also passender, wenn ich euch die in der Fachwelt aktuell diskutierten Aspekte zum Thema Sterben in der Mediengesellschaft oder Jenseitserlebnisse heute näher bringen würde, vielleicht, dass euch daraus ein Trost erwachse? Vergiss es! Im täglichen Leben interessiert sich keine Sau für solche Ansichten. Da geht es um Obduktion, Beerdigungstermin, Grabpflege und Witwenrente.«

»Also, Karla ist für mich immer wieder ein Flash«, meinte Anja. »Wenn man euch zuhört, glaubt man, dass alle Boys total daneben sind, auch wenn sie supercool sind und absolut krass aussehen. Die ist schon ewig mit ihrem Peter zusammen und immer noch megamäßig verknallt. Und jetzt kriegt sie ein Baby und checkt total aus.«

»Aber sag Mal, würdest du einen klein gewachsenen, schwammigen, käseweißen Mittdreißiger wollen, mit schütterem Haarwuchs und miserabler Körperhaltung, der nicht einmal tanzen kann, dafür aber eine große Briefmarkensammlung besitzt?«, gab Elsbeth zu bedenken.

»Boah, tickst du? Voll Minus! Krass aussehen muss er natürlich und größer sein als ich und die gleichen Interessen haben, und ...«

»Das wären: Sport, Schönheit, Kleider, gesunde Ernährung, Sport, Schönheit, Kleider, gesunde Ernährung ...«, fasste Herta zusammen und unterstrich dies mit einem wogenden Glockenlachen.

Erleichtert meldete die vom Telefon zurückkehrende Karla: »Es geht ihm gut. Er lässt euch alle schön grüßen und fragt, ob uns die Polizei eigentlich schon befragt habe. Meint ihr wirklich, die wollen uns zum Tod von Helgas Mann befragen?«

»Davon müssen wir wohl ausgehen«, antwortete Martina, während sie den schweren goldenen Armreif an ihrem linken Handgelenk zurechtrückte. »Schließlich weilte Helga gestern mit uns am Tisch, was sie sicherlich zu Protokoll gegeben hat. Die Behörden werden selbstverständlich abklären müssen, ob dieses Alibi fundiert ist.« Woraufhin sie ein Stück ihres belegten Brötchens abschnitt und geziert in den Mund steckte.

»Die Bullen denken doch wohl nicht, Helga hätte ihn umgenietet ... ?«, fragte Anja erstaunt und strich über ihre in schwarzen Leggins steckenden durchtrainierten Schenkel.

»Die verdächtigen alle!«, verkündete Marianne und deutete zum Eingang. »Da wir vom Teufel reden ... die Polente trifft soeben ein.«

Alle drehten sich zur Tür und beobachteten die beiden eintretenden Männer. Der ältere trug einen knielangen dunkelgrauen Wollmantel, der andere steckte eben einen übergroßen, bunten Regenschirm in den bereits ziemlich vollen Schirmständer.

»Wieso glaubst du, dass das Polizisten sind«, fragte Karla und stellte ihre Teetasse ab. »Sie tragen doch gar keine Uniform.«

»Das steht mit sooo großen Buchstaben in ihre Visagen geschrieben«, antwortete Marianne und deutete mit weit ausgebreiteten Armen die Ausmaße des virtuellen Schriftzuges an.

Der Polizist mit dem Wollmantel ließ seinen Blick durch das mit moderner, luftig-leichter Innenarchitektur ausgestattete Kaffeehaus mit dem programmatischen Namen Café wandern. Er nahm die lockere Ordnung der runden, gut besetzten Bistrotischchen wahr, die an schlanken gusseisernen Stützen aufgestellten Pflanzenkübel, die dezente, indirekte Deckenbeleuchtung. Gegenüber vom Eingang befand sich die Theke mit zwei großen, original italienischen Espressomaschinen. Dahinter stand der dickbauchige Wirt und bereitete eben einen Cappuccino mit perfektem Milchschaum zu. Zwischen den Tischen balancierte ein junger, schwarz gekleideter Kellner ein mit Kuchen und belegten Brötchen gefülltes Tablett.

Anja hielt ihr Mineralwasserglas mit beiden Händen fest. »Eyh, boah! Schaut Euch bloß den Großen an. Der sieht ja voll krass aus!«

»Ja, der wäre genau deine Kragenweite. Mindestens ein Kopf größer, doppelt so breit wie du, sportlich gebaut und außerdem Polizist - ein wirklicher Traumprinz«, stichelte Elsbeth.

Der ältere der beiden Männer fragte den vorbeieilenden Kellner etwas. Dieser deutete zu den beiden zusammengeschobenen Tischchen, an denen die Frauen saßen. Nachdem der Polizist sich zu den Frauen durchgeschlängelt hatte, sprach er sie an.

»Entschuldigen Sie bitte, meine Damen. Sind Sie die Bekannten von Frau Helga Fäh-Übersax?«

»Wir sind nicht ihre Damen?«, bellte Marianne.

»Marianne, ich bitte dich!«, zischte Martina tadelnd. »Sei doch nicht immer gleich so fürchterlich aggressiv. Der Herr ist doch sehr freundlich.«

»Das sind sie zuerst immer. Und dann schießen sie mit Tränengas.«

Mit belustigtem Schmunzeln öffnete der Ermittler seinen Mantel weit. »Offenbar steht uns ins Gesicht geschrieben, weshalb wir hier sind. Aber wir sind völlig harmlos. Schauen Sie: kein Granatwerfer, kein Gummischrotgewehr.« Seine in einem Schulterhalfter steckende Pistole wurde sichtbar. »Nur die übliche Dienstwaffe, um flüchtige Verbrecher und widerspenstige Zeugen zu erschießen.«

Es erklang ein glockenhelles Lachen. »Ein Staatsangestellter mit Humor! Das gefällt mir«, verkündete Herta und schaute den Ermittler auffordernd an.

»Gut, von Ihrer Harmlosigkeit haben wir uns überzeugen können«, sagte Elsbeth. »Aber Ihr junger Kollege könnte in seiner Jacke eine ganze Luftabwehrbatterie verstecken.« Sie zwinkerte Anja verstohlen zu.

Grathwohl schaute seinen Chef unschlüssig an, und als der ihm schmunzelnd zunickte, öffnete er den Reißverschluss seiner Jacke. Auch bei ihm wurde die Dienstwaffe im Schulterhalfter sichtbar.

Anja flüsterte mit Elsbeth. »Oh, Mann! Diese voll korrekten Hüften, dieser muskulöse Brustkorb! Wow!« Sie fuhr mit den Fingern der linken Hand durch ihre zurzeit schwarz gefärbten langen Locken und blickte den jungen Polizisten schmachtend an.

»Dürfen wir uns einen Augenblick zu Ihnen setzen? Wir hätten gern ein paar Fragen gestellt.« Nachdem die Frauen etwas zusammengerückt waren, zogen die Polizisten zwei leere Stühle von den Nachbartischen heran und setzten sich.

»Es geht sicher um diesen schrecklichen Mord am Mann von Helga«, vermutete Karla.

»Ja. In erster Linie interessiert uns dabei die Frage, ob die Aussage von Frau Fäh, dass sie ...«

»Fäh-Übersax!«, schnappte Marianne. »Dass ihr Männer immer den Namen der Frau unterschlagen müsst, als sei er nichts als Abfall, der bei einer Heirat anfällt und sang- und klanglos entsorgt wird.«

»... ob die Aussage von Frau Fäh-Übersax zutrifft, dass sie zur Tatzeit mit Ihnen hier zum Kaffee zusammengesessen habe«, fuhr der Polizist unbeirrt fort. »Wer von Ihnen war denn gestern anwesend?«

»Sagt denen bloß nichts«, warnte Marianne hastig. »Das kommt alles in irgendwelche Akten und - irgendwann - ziehen die es wieder heraus und drehen euch einen Strick daraus.«

»Sie müssen Frau Marianne Peters sein«, folgerte der Ermittler. »Frau Fäh-Übersax hat uns gewarnt ...«

»Ich habe genug schlechte Erfahrungen mit der Polente gemacht habe. Wenn wir auf dem Barfüßerplatz für die Umwandlung des Stadt Kasinos in ein alternatives Kulturzentrum demonstriert haben, habt Ihr uns mit Tränengas eingenebelt und dann hämisch gegrinst, wenn wir uns die Seele aus dem Leib gekotzt haben.«

»Und später hat dich dann deine Demoliebe mit zwei antiautoritär erzogenen Bengeln sitzen gelassen«, stichelte Martina. »Das ist dann eben auch ein Teil der Freiheit, für die ihr demonstriert habt.«

»Wir haben auch gegen das Establishment, gegen den Filz der Bosse und gegen den dekadenten Geldadel gekämpft, zu dem du ja wohl gehörst.«

»He, toll! Der Klassenkampf geht wieder Mal los«, jubelte Elsbeth ironisch.

Mit opernreifer Altstimme begann Herta die Internationale zu intonieren: »Völker höööret die Signaaaale.« Schließlich brach sie ab und ließ ihr aufdringliches Lachen und ein Körperbeben folgen.

»Wissen Sie, über solchen Scheiß reden die hier öfter«, erklärte Anja dem jungen Polizisten sachlich. »Ich finde das ja total senil. Ich rede lieber über Sport, Fitness, Ernährung und so.«

»Apropos Ernährung«, warf Elsbeth ein. »Was ich die ganze Zeit schon fragen wollte: Hat dir der Kellner nicht vorher das Falsche serviert. Du wollest doch eigentlich einen frischen Blattsalat und nicht ein Stück Schwarzwälder Torte.«

»Du mit deiner Orangenhaut bist doch bloß voll neidisch, dass ich Torte fressen kann und doch kein bisschen Fett am Body habe.« Daraufhin erhob sie sich, zog ihre pinkfarbene Bluse etwas hoch und ließ stolz ihre schlanke, mit einem zierlichen Schmetterlingstattoo versehene Taille sehen. »Oder sehen Sie hier irgendwo eine Speckfalte?«, fragte sie Grathwohl direkt. Dieser hatte endlich seinen Kugelschreiber in Gang gebracht und nahm überrascht und leicht verlegen den sich ihm bietenden erfreulichen Anblick entgegen.

Elsbeth richtete sich kerzengerade auf und schnauzte Anja an. »Ja genau, du bist so dürr wie ein Stück Trockenfleisch. Und auch deine Hautfarbe passt bald dazu.«

»Die hole ich mir in deinem scheißteuren Solarium«, konterte diese.

»Ihr habt alle gut lachen«, sagte Marianne. »Ihr seid wohlbehütet aufgewachsen, habt immer alles bekommen, was ihr wolltet. Ich hingegen, als ...«

»... viertes Kind einer armen Arbeiterfamilie«, murmelten die anderen Frauen im Chor.

»... jawohl, ich habe um jeden Scheiß kämpfen müssen. Mein Vater war Säufer ...«

»Meine Damen!«, versuchte Tanner einzugreifen.

 »... und hat uns Kinder und unsere Mutter im Suff immer wieder verdroschen und wenn wir aufgemuckt ...«

»Meine Damen, bitte ...«

»Du bist also der Meinung, das Leben als gehätschelte Tochter eines reichen Weinbauern, der sich für was Besseres hielt als seine Kollegen im Dorf, sei ein Kinderspiel gewesen?«, fragte Martina zurück. »Nie durfte ich draußen im Wald herumtoben, weil meine schneeweißen Röckchen hätten Schaden nehmen können. Währenddem die Kinder der Bauern im Sand spielten, fand mein Violinenunterricht statt und ...«

»Ruhe, verdammt!«, donnerte Tanner.

»Ihr glaubt also immer noch, ihr könntet das Volk mit lauten Kommandos zur Räson bringen«, schimpfte Marianne zum Ermittler. »Begreift endlich, dass nur mit Argumenten ...«

»Du sprichst von Argumenten wie: Reißt die Banken ein, sprengt das Establishment!«, meinte Martina.

»Jaaa, das sind Argumente!«, stimmte Herta mit lautem Lachen zu.

Tanner erhob sich von seinem Stuhl und zupfte den staunenden Grathwohl am Ärmel, als Aufforderung, ihm zur Theke zu folgen.

»Natürlich, du könntest uns sicher einen Vortrag über Struktur und Aufbau von Argumenten während der Biedermeierzeit halten. Und damit wären wir sicherlich besser bedient, als mit deinen unaufhörlichen vulgären Einwürfen in unsere gemütliche Unterhaltung«, tadelte Martina Herta.«

In versöhnlichem Tonfall frage Anja. »Eyh, Elsbeth, was wirft man sich eigentlich zu einer Beerdigung über?«

Aber Elsbeth war immer noch gereizt. »Am besten schlüpfst du in einen schwarzen Feuerwehrschlauch. Das macht schlank!«