1. Tag, Donnerstag

1

Alte, hochgewachsene Bäume säumten die Waldstraße. Ihre kahlen Kronen streckten die Äste wie Knochenhände in den eisgrauen Himmel. Der böige, kalte Wind ließ sie spastisch hin- und herrucken. Leise schmatzende Schritte waren von Ferne zu hören, fast übertönt vom Geräusch der Tropfen, die in monotonem Rhythmus von den schwarzen Ästen fielen. Die geschotterte Straße beschrieb eine leichte Rechtskurve und führte um einen lang gestreckten Hügel herum. Seine Hänge stiegen erst sanft, dann immer steiler an, um schließlich in senkrechte, mehrere Dutzend Meter hohe, zerklüftete Felsen überzugehen. Eine graue Nebelwand verhüllte den Blick zur Hügelkuppe. Drohend, wie zum Angriff bereit, hing sie über der vom Herbst kahl gefegten Landschaft. In die andere Richtung verlor sich der Blick in einem Meer von Geisterarmen, die sich dort in Dunst auflösten, wo das Rheintal zu erahnen war. Ein modriger Geruch schlich um die Stämme. Das abgefallene Laub auf der Waldstraße war nass und verklumpt, weshalb saugende Geräusche die zielstrebigen Schritte des Mannes begleiteten. Gekleidet war er in einen dunklen, knielangen Ledermantel mit hohem, aufgestelltem Kragen. Seinen Kopf bedeckte ein breitkrempiger Hut. An den Händen trug er eng anliegende, schwarze Handschuhe, an den Füßen neue grüne Gummistiefel.

Der Mann schnitt eigenartige Grimassen. Er verzog seine Lippen zu einem breiten Grinsen, dann wieder zu einem Kussmund. Immer wieder ließ er seine Zunge in den Backen kreisen. Hob und senkte die Augenbrauen, seine Augen schielten zur Nasenspitze. Zwischendurch räusperte er sich ausgiebig. Manchmal ließ er die Schultern kreisen.

In der Ferne waren regelmäßige, trockene Schlaggeräusche zu vernehmen. Je mehr der Mann sich ihnen näherte, desto deutbarer wurden sie: Jemand spaltete Holz. Hinter einer kleinen Kuppe der Waldstraße parkte ein schlammbespritzter, anthrazitfarbener Nobelgeländewagen. Der Mann hörte auf, Grimassen zu schneiden. Neben dem Wagen war in etwa drei Metern Höhe eine verblichene blaue Lastwagenplane zwischen vier Bäumen gespannt. Von ihrem Rand fiel eine unablässige Perlschnur von Wassertropfen und schien so die magische Grenze zum umgebenden triefenden Wald zu markieren; unterhalb der Plane war der Boden trocken. Auf der rechten Seite des überdeckten Geviertes befand sich ein hoher Stapel aus gesägtem Holz. Vor einem behäbigen, eichenen Spaltstock hatte sich ein mittelgroßer, braunhaariger Mann aufgebaut. Er war wohl etwas über dreißig Jahre alt, sah gepflegt aus, sportlich, attraktiv, war in blaue Überkleider gehüllt und trug schwere Arbeitsschuhe. Mit Vehemenz schwang er ein langes Beil und schlug ein Holzstück nach dem anderen entzwei, wofür meist ein einziger Hieb genügte. Sein Gesicht war vor Anstrengung und Konzentration gerötet. Die Kiefermuskeln waren angespannt und der Blick wild auf das nächste bereitstehende Holzstück fixiert. Wenn er zum Schlag ausholte, öffneten sich seine Lippen zu einem diabolischen Grinsen, welches zusammengebissene, makellose Zähne entblößte. Beide Hände um den Axtstiel gekrampft, begann er den Schwung hinunter zum Spaltstock. Er bemerkte den Mann erst, als dieser ihn ansprach. Vor Schreck ging der Schlag daneben, und das Beil blieb tief im Hackklotz stecken. Das Holzstück landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden und kullerte davon.

»Mann, haben Sie mich erschreckt!«, schnauzte der Holzer.

»Entschuldigen Sie, das wollte ich keineswegs. Ich war nur erfreut, jemanden in diesem menschenleeren, trostlosen Wald anzutreffen.«

»Trostlos - jaja. Also tschüss.«

Der Holzer wandte sich seinem im Spaltstock steckenden Beil zu und zog es mit einiger Mühe aus dem Holz.

»Sie spalten sehr gekonnt. Ich habe Sie eine Weile beobachtet.«

»Hm.«

»Heizen Sie mit Holz?«

»Nein.« Er hob das heruntergefallene Holzstück auf und platzierte es auf dem Spaltstock.

»Dann haben Sie wohl einen Kamin und machen jetzt das Feuerholz für einen gemütlichen Abend bereit. Das kann ich gut verstehen. An einem Tag wie heute säße ich auch gerne vor einem prasselnden Kaminfeuer, ein gutes Buch in der Hand, daneben meine Frau ... naja, wenn es wieder so wie früher wäre ...«

»Nein.« Der Holzhacker versuchte sich zu konzentrieren und holte zum nächsten Schlag aus.

»Wie bitte?«

Er ließ gereizt das Beil sinken.

»Ich sagte: nein.«

»Ja, schon, aber wozu? Ich meine, zu welcher meiner Aussagen haben Sie nein gesagt?«

»Nein-ich-ha-be-kei-nen-Ka-min«, schnarrte der Holzer mit zusammengebissenen Zähnen. Er wiederholte seine Ausholbewegung, schlug zu und halbierte das Holzstück mit einem wütenden Hieb.

»Genau in der Mitte ... wissen Sie, was mir ganz besonders gefällt? Es ist dieses Spaltgeräusch, dieser trockene Schlag, der mit einem Splittern verbunden ist - schwer zu beschreiben, eigentlich.«

Nach einem ärgerlichen Seitenblick zum ungebetenen Gast fuhr der Holzer mit seiner Arbeit fort. Ein Holzstück nach dem anderen stellte er auf den Spaltstock und schlug es entzwei. Während er den Fremden zunächst noch ab und zu aus den Augenwinkeln anschaute, schien er schon bald dessen Anwesenheit zu vergessen. Bewundernd schaute jener zu und nahm das einseitige Gespräch wieder auf.

»Wissen Sie, früher saßen meine Frau und ich oft vor unserem Kamin und schauten dem brennenden Holz zu. Damals war alles noch in bester Ordnung.« Murmelnd fügte er hinzu: »Heute hingegen könnte ich sie manchmal ...«

Der Holzer schaute ihn von der Seite an.

»Sie könnten sie was?«

»Seit ich meine Arbeit verloren habe, hat sich alles geändert«, erläuterte der Fremde und schaute nachdenklich auf seine Füße. »Wir waren immer beide berufstätig, oder sogar mehr als das. Eigentlich haben wir uns mit unserer Arbeit in unseren Persönlichkeiten definiert. Wir waren erfolgreich - sie ist es heute noch. Meine Arbeitslosigkeit ist für mich mehr, als einfach vorübergehend keinen Job zu haben. Es geht an mein Innerstes.«

»Sie sind arbeitslos?« Allmählich erwachte das Interesse des Holzers. Er stützte das Beil auf den Spaltstock und wandte sich dem Fremden zu.

»Seit fast einem Jahr. Obwohl ich beste Qualifikationen habe, finde ich einfach keine neue Stelle. Dabei bin ich noch jung, voller Energie, habe mich seit meinem Jobverlust sogar weitergebildet. Auf eigene Kosten. Aber aus unerklärlichen Gründen will mich keiner anstellen. Und so, ohne Job, habe ich mehr und mehr den Respekt meiner Frau verloren.«

Er hob den Blick und schaute dem anderen in die Augen.

»Sie verachtet mich! Und bei jeder Gelegenheit lässt sie mich spüren, dass ich für sie minderwertig bin. Seit neun Monaten und acht Tagen haben wir nicht mehr zusammen geschlafen. Der letzte Kuss ist acht Monate und drei Tage her. Als ob ich unrein geworden wäre, ein Paria! Vor einem halben Jahr hat sie separate Schlafzimmer verlangt. Sie isst kaum mehr zu Hause, geht immer ohne Frühstück aus dem Haus.«

Allmählich steigerte sich die Klage des Fremden in eine dampfende Wut. Er gestikulierte, seine Stirnadern schwollen an.

»Wenn sie dann wieder spätabends nach Hause kommt, keinen Gruß für notwendig hält und sich sofort in ihr Zimmer zurückzieht, dann überkommt mich manchmal eine heiße Wut und ich könnte sie ...«

Während er sprach, wurde sein Gesicht dunkelrot, seine Augen brannten in Wut, der ganze Köper zitterte vor Anspannung. Seine behandschuhten Hände krampften sich in einer würgenden Bewegung zusammen.

»Das kenne ich«, unterbrach ihn der Holzer erstaunt. Verwundert blickte ihn der dunkel gekleidete Fremde an, wie wenn er aus einem Traum erwachte.

»Sie ... Sie können mich verstehen?«

»Allerdings«, bestätigte der Holzer. »Mir geht es fast genau so. Ich bin zwar nicht arbeitslos, aber nicht sehr erfolgreich in meinem jetzigen Job. Meine Frau hingegen zieht einen großen Auftrag nach dem anderen an Land und erzählt mir alle Details, nur um mich spüren zu lassen, dass ich nichts zustande bringe. Und dann beginnt mir die Galle zu steigen. Ich kann nicht mehr reden, packe mein Beil und fahre hierher.«

»Das ist ja kaum zu glauben, mitten im Wald treffe ich einen Leidensgenossen!«, jubelte der Fremde. »Lassen Sie mich ihre Hand schütteln.« Er schien den Tränen nah zu sein, als er die Rechte seines Gegenübers mit beiden Händen fasste und ergriffen schüttelte. »Und um sich abzureagieren, hacken Sie dann Holz. Das kann ich so gut verstehen! Körperliche Aktivität ist wunderbar geeignet, um von emotionalen Problemen abzulenken, ich habe es eine Weile mit Radfahren versucht ...«

»Darum geht es nicht.«, unterbrach ihn der Holzer. Mit tiefer Stimme, gefährlich langsam sprechend, fuhr er fort: »Wenn ich ein Holzstück auf den Spaltstock stelle und zum Schlag aushole ...«, er nahm breitbeinig vor dem Spaltstock Aufstellung, ergriff sein Beil, holte langsam aus, die Stimme mehr und mehr erhebend, »dann stelle ich mir vor, auf dem Spaltstock läge nicht ein Stück Holz ...«, er spannte alle Muskeln zum Schlag, »sondern ihr grinsender Schädel!« Krachend halbierte sein Beil das Holzstück.

»Fantastisch! Das kann ich völlig nachvollziehen!«, applaudierte der Fremde und betrachtete bewundernd die beiden Holzhälften. »Darf ich es auch einmal versuchen?«

Der Holzer zögerte etwas und fragte dann: »Können Sie Holz spalten?« Irgendwie schien es ihm nicht zu gefallen, einem anderen das Gerät seiner intimen ehelichen Abrechnung anzuvertrauen.

»Ich habe es bisher noch nie versucht.«

»Es ist schwieriger als es aussieht. Sie werden enttäuscht sein, wenn es beim ersten Schlag nicht klappt, wenn Sie vielleicht sogar das Holzstück verfehlen.«

Der andere dachte kurz darüber nach, fand dann aber eifrig: »Ich bin froh, dass Sie mich gewarnt haben, aber ich möchte es dennoch gerne einmal versuchen.«

»Sie könnten sich verletzen«, beharrte der Holzhacker.

»Der Versuch ist mir dieses Risiko wert.«

Zögernd streckte der Holzer dem anderen das Beil hin. Dieser spuckte in die schwarzen Handschuhe und ergriff den Stiel. Der Holzer runzelte die Stirn, angewidert ob dieser Verunreinigung seines Gerätes. Dennoch leitete er den Fremden an.

»Stellen Sie sich hier hin. Ich bereite Ihnen ein Holzstück auf dem Spaltstock vor, ein schön großes, damit Sie eher treffen.«,

»Herzlichen Dank. Ich spüre schon jetzt, mit diesem schweren Beil in den Händen, dass mir das gut tun wird.«

»Stellen Sie sich gerade vor den Spaltstock, spreizen die Beine etwas und heben Sie das Beil über den Kopf. Achten Sie darauf, dass Sie es gerade halten.« Der andere tat wie ihm geheißen. »So, nun holen Sie noch etwas mehr aus und schlagen zu.«

Der andere holte noch etwas mehr aus, drehte sich zum Holzer hin und schlug ihm das Beil mit aller Kraft in den Schädel.

Mit vor Erstaunen weit aufgerissenen Augen sah ihn dieser an, röchelte noch »Anfänger ...«, stürzte hintenüber zu Boden und blieb reglos liegen.