Der Sack

    

Georg Tanner blinzelte in den wirbelnden Schnee, der vom eisigen Wind durch die nächtlichen Strassen getrieben wurde. In den blassen Lichtkegeln der Kandelaber wirkten die treibenden Flocken wie wehende Gardinen. Dieses Bild hätte zauberhaft sein können. Doch wandelte sich das Weiss, kaum auf dem Boden gelandet, zu blassbraunem Matsch. Achtlos vorbei fahrende Autos spritzten ihn klatschend auf den Gehsteig. Fluchend wich Tanner vom Strassenrand zurück, als ein solcher Schwall seine braunen Halbschuhe durchtränkte. Eiskaltes Spritzwasser schwappte zwischen die Zehen.

Er schielte zu seinem Kollegen Peter Diener, der neben ihm herging.

"Na, schon weihnachtliche Gefühle, Diener?"

"Sie laufen mir eiskalt den Rücken hinunter", antwortet dieser. „Kapuze sollte man tragen, wie der da." Er wies mit einem Nicken auf einen Samichlaus, der im prächtigen Purpurmantel, mit Stab und Sack an ihnen vorbei eilte. "Aber auch die müssen sich zur Zeit warm anziehen - im übertragenen Sinn. Wegen der Santa-Claus-Raiders. Samichläuse ausrauben - das verstehe ich nicht."

Tanner lachte grimmig. "Die Täter essen eben fürs Leben gern Erdnüsse, Mandarinen und Lebkuchen." Er hatte in seiner Laufbahn schon vieles erlebt. Aber noch nie eine Überfallserie auf Samichläuse. "Ich halte es eher für Dumme-Jungen-Streichs. Schon wegen der Visitenkarten, die sie hinterlassen: Frohe Weihnachten - Eure Santa-Claus-Raiders."

Diener schüttelte den Kopf. "Die Kerle werden immer dreister. Der letzte Überfall war in einer dunkeln Innenstadtgasse. In genau so einer übrigens, wie sie der Chlaus von vorhin gerade betritt". Er deutete nach vorne.

Dort sah Tanner noch, wie der Purpurmantel um eine Hausecke verschwand. "Sie haben Recht. Vielleicht sollte er das wirklich nicht tun."

"Schauen wir hinter ihm her", sagte Diener und folgte dem Chlaus.

Es war eine ausgesucht dunkle Gasse. Zwar nur etwa hundert Meter lang, aber es gab keine Laterne, nicht einmal ein erleuchtetes Fenster, das etwas Helligkeit abgab. Vom Chlaus war nur ein Schemen erkennbar.

"Er hat das Ende der Gasse gleich erreicht, wir können umkehren", sagte Tanner.

"Nein", flüsterte Diener zurück und deutete nach vorn. "Schauen Sie."

Wie aus dem Nichts waren vier Männer vor dem Chlaus aufgetaucht. Einer schwang einen Baseballschläger.

"Die schnappen wir uns", sagte Diener und schlich eng an die dunkle Hausmauer gedrängt auf die Gruppe zu. Mit der Rechten zog er seine Pistole aus dem Mantel.

"Mann, Diener, die sehen uns von weitem und hauen ab. Wir brauchen Verstärkung, wenn wir sie schnappen wollen." Ausserdem war er mit nassen Halbschuhen nicht für eine Verfolgungsjagd im Schneematsch gerüstet.

Aber schon rief Diener mit scharfer Stimme: "Stehenbleiben, Polizei."

Die Kerle reagierten blitzschnell, rannten los und verschwanden um die nächste Ecke. Doch nur Sekunden später kamen sie zurück. Rückwärts. Und ganz langsam. Diener eilte am überfallenen Chlaus vorbei, Tanner schlitterte hinterher. Mit vorgehaltenen Waffen traten sie den Räubern entgegen.

"Los, Gesicht zur Wand, Schläger fallen lassen. Dann Hände auf Schulterhöhe an die Mauer legen und Beine breit machen", sagte Diener. Dann blickte er an den Räubern vorbei - und liess die Waffe sinken.

Um die Ecke der engen Gasse kamen drei Gestalten. Noch ein Samichlaus, samt Schmutzli und Esel.

"Hahahaaa", lachte Diener. "Das nenne ich Ironie des Schicksals. Die Santa-Claus-Raiders werden vom Samichlaus gestellt."

Auch Tanner konnte sich ein schiefes Lächeln nicht verkneifen. Als die drei Gestalten aber näher kamen, verschwand es. Sie wirkten - seltsam.

"Dann kassieren wir die Herrschaften doch ein", sagte Diener und zückte das Mobiltelefon. "Ich rufe einen Streifenwagen."

"Hm-hm", räusperte sich eine tiefe, warme Stimme. War das dieser seltsame Chlaus gewesen? Tanner musterte ihn. Das Gesicht war nicht zu erkennen. Es wurde vom bauschigen weissen Bart, weissen Haaren und der roten Kapuze verborgen.

"Dürfen wir bitte zuerst?" sagte die warme Stimme. Es musste dieser Chlaus sein.

"Tut mir Leid, das ist eine Angelegenheit für die Polizei", sagte Diener.

Der Chlaus schüttelte bedächtig den Kopf und streckte dem Schmutzli seine behandschuhte Rechte entgegen. Dieser nahm ein grosses, dickes Buch vom Traggeschirr des Esels und legte es ihm in die Hand.

"Du irrst dich, Peter Diener", sagte der Chlaus. Tanner hatte das Gefühl, dass er die Worte gar nicht mit den Ohren hörte. Vielmehr schien die Stimme direkt in seinem Kopf zu ertönen.

"Sie kennen mich?", staunte Diener.

"Ich kenne alle, auch Georg Tanner." Die behandschuhte Rechte wies fahrig auf ihn. Eine Erwiderung bekam Tanner nicht heraus. Jetzt war er sicher, dass der Chlaus eine ihm unbekannte Sprache redete. Dennoch verstand er die Worte.

Der Chlaus öffnete das grosse Buch und blätterte ein paar Seiten um.

"Peter Frei." Einer der Räuber zuckte zusammen und wandte sich dem Chlaus zu. Dann stand er da mit gesenktem Kopf, nervös mit den Fingern spielend.

"In diesem Buch stehen keine schönen Sachen über dich", sagte der Chlaus. "Über all die hässlichen Dinge von früher wollen wir gar nicht reden. Dass du aber in letzter Zeit Samichläuse überfallen und ausgeraubt hast, ihnen all die Sachen gestohlen hast, die für Kinder bestimmt waren, das ist schlimm."

Er schwieg ein paar Sekunden. Der Räuber wurde unruhig und schliesslich sagte er mit erstickter Stimme: "Nein, das war nicht gut."

"Du weisst, welche Strafe darauf steht?"

"Die Fitze?", fragte der Räuber kleinlaut.

Ein kellertiefes Grollen erklang. "DAS REICHT NICHT." Das war der Schmutzli gewesen. Auch sein Gesicht war nicht zu erkennen, verdeckt von schwarzem Bart, schwarzen Haaren und schwarzer Kapuze.

"Der Sack?", fragte der Räuber mit entsetzter Stimme.

"Richtig", antwortete der Chlaus und streckte seine Hand nach dem jungen Mann aus. Je näher sie ihm kam, desto grösser und mächtiger schien sie zu werden. Er packte ihn am Nacken und zog ihn zu sich. Der Schmutzli nahm einen grossen, leeren Sack unter seinem Mantel hervor und öffnete ihn. Wie wenn es nichts wäre, hob der Chlaus den Räuber hoch und senkte ihn in den Sack.

Das ging Tanner zu weit. Er holte Atem zum Sprechen. Da trat der Esel zwei Schritte vor. Unwillkürlich wich Tanner zurück. Er hatte noch nie einen Esel mit einem solchen Blick gesehen. Die Augen des Tieres bannten ihn auf die Stelle.

Seine Gedanken wirbelten wie Schneeflocken durcheinander. Die Zauberwelt der Kindheit rang mit den Zweifeln des Erwachsenen. Was blieb, war Staunen.

Wie mit dem ersten Räuber verfuhr der Chlaus auch mit den drei anderen. Er Blätterte im Buch, redete in der eigenartigen Sprache über ihre Sünden, packte sie am Kragen und steckte sie in den Sack. Dieser wurde dabei kein Bisschen voller. Schliesslich verschwand er wieder unter dem Umhang des Schmutzlis.

"Das wär's." Der Chlaus nickte Tanner zu. Die drei Gestalten wandten sich um und gingen in gemessenem Schritt die Gasse hinunter. Je weiter sie sich entfernten, desto undeutlicher wurden sie. Und dann waren sie verschwunden.

Endlich konnte Tanner sich wieder regen. Der überfallene Chlaus atmete pfeifend aus, wie wenn er die ganze Zeit den Atem angehalten hätte. Die Männer sahen sich an.

"Jaaa ...", sagte der Chlaus dann heiser.

"Hmhm", machte Diener.

Tanner murmelte: "Es gibt ihn also wirklich."

Dann wandten sie sich um und gingen im Schneetreiben schweigend die Gasse zurück, die Schultern hochgezogen, die Hände tief in Hosen- und Manteltaschen versenkt.