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"Kuckuck! Überraschung!"

Eine wohlbekannte weibliche Stimme flötete ungewohnte Töne. Das wäre jetzt wirklich nicht nötig gewesen. Tanner seufzte und schaute den neben ihm stehende Schwab an.

"Hallo, Frau Kliebenschädel. Na, immer ein Ohr am Polizeifunk?"

Sie standen an einer Ecke der Claramatte und beobachteten die Walfischbar. Den Maserati hatten sie wenige Meter entfernt an der Klingentalstrasse geparkt. Von ihrer Position konnten sie sowohl den Vordereingang der Bar als auch den diskreten Ausgang in den Hinterhof sehen und waren selbst hinter einer Hecke gut versteckt. Aber offenbar nicht gut genug für die Reporterin.

"Wo denken Sie hin", antwortete diese, "Polizeifunk abhören ist doch verboten. Ich handle aus reiner Intuition. Das Gefühl für die Sensation, wissen Sie. Das zieht einen manchmal unwiderstehlich aus dem Haus an einen bestimmten Ort, man kann sich gar nicht wehren ..."

"Blablabla." Natürlich hatte sie den Funk abgehört. "Aber, was soll's. Ich kann es ja doch nicht ändern, dass Sie hier sind."

"Da wären wir endlich beim Thema. Was tun Sie beide denn hier."

"Beobachten."

"Aha! Beobachten." Sie zuckte mit den Schultern. "Was denn beobachten?"

"Ein Stundenhotel."

"Ist Ihre Anne auf Abwegen?"

"So, jetzt reichts", sagte er und zeigte mit spitzem Finger in ihr Gesicht. "Sie können von Glück sagen, dass ich Ihnen dankbar sein muss."

"Dankbar sein. Das klingt gut." Sie strahlte ihn an. "Warum denn?"

"Die beiden Männer, in deren Begleitung Sie Anne heute Morgen vor ihrem Studio gesehen haben, sind ihre Entführer."

"Sie ist entführt worden?" Riesige Augen blickten ihn an.

"Mittlerweile sind sie eben dort im Stundenhotel untergekrochen. Wir überwachen die jetzt laufende Evakuierung des Gebäudes." Bis jetzt war scheinbar alles gut verlaufen. Zumindest hatte er keine hysterisch schreienden Freudenmädchen aus dem Haus stürzen sehen.

"Das ist ja sensationell", flüsterte die Reporterin atemlos. "Und Sie sind nicht direkt an der Aktion beteiligt?"

"Von einem Fall unmittelbar betroffene Beamte dürfen damit nicht befasst sein. Wegen der Gefahr, emotional und nicht objektiv zu handeln." Das klang gut. Wenn er es noch ein paar Mal wiederholte, könnte er sich vielleicht sogar selbst damit abfinden.

"Wissen die Entführer, dass Sie wissen, wo sie sind?"

"Nein. Deshalb muss die Aktion, von der Sie offenbar per Polizeifunk etwas mitgekriegt haben, mit grösstmöglicher Diskretion ablaufen. Was haben Sie übrigens genau mitgekriegt?"

Die Kliebenschädel war einen Moment ruhig. Wahrscheinlich überlegte sie, ob sie antworten sollte. Schliesslich würde sie damit zugeben, dass sie den Funk abgehört hatte.

"Eigentlich wenig", sagte sie dann. Also doch! "Es wurde einmal die Hammerstrasse hier erwähnt und der Rest waren Codenamen, die mir nichts sagten. Aber solche Codes werden von Ihnen ja nur verwendet, wenn etwas wirklich Grosses läuft. Deshalb dachte ich, dass es sich lohnen könnte, hierher zu fahren."

"Herr Tanner." Schwab klang für seine Verhältnisse sehr aufgeregt. Tanner sah sofort zu ihm hin. Er deutete zum Hinterausgang der Walfischbar.

"Kann das nicht das Entführerfahrzeug sein."

"Verdammt. Ich kann zwar die Zulassungsnummer nicht erkennen, aber ich bin sicher, es ist das Auto. Und ich kann drei Personen darin erkennen. Sie sind es. Rufen Sie sofort die Zentrale und informieren sie darüber."

"Bis dann sind sie weg und wir haben keine Ahnung wohin", sagte Schwab.

"Los in den Wagen und hinterher. Wir rufen von unterwegs an."

Die beiden Polizisten hasteten los zum Maserati. Klickende Geräusche von hochhackigen Schuhen hinter Tanner verrieten, dass die Kliebenschädel ihnen folgte.

"Ich komme mit", sagte sie und öffnete unaufgefordert eine der hinteren Türen des Wagens, glitt auf den Sitz und schloss die Tür wieder.

"Was fällt ihnen ein? Sie steigen sofort aus, das hier ist eine Einsatzfahrt, da können wir die Presse ..."

"Versuchen Sie doch mich raus zu werfen", antwortete die Reporterin mit streitlustiger Miene.

"Herr Tanner, haben keine Zeit für Diskussionen. Die hauen ab." Schwab drehte den Motor schon hoch und legte den Gang ein.

"Scheisse!" fluchte Tanner. Aber Schwab hatte Recht. Dieses gerissene Weib hatte die Gelegenheit genutzt. Nun musste er sie auf der Verfolgung mitnehmen. Er konnte nur hoffen, dass nichts schief ging. Mitten am Tag ein Auto durch die Stadt zu verfolgen war eine äusserst schwierige Sache. Die Unfallgefahr war gross. Vorne überquerte die Limousine gerade die Klingentalstrasse.

"Also vorwärts. Ich informiere die Zentrale, dass die Aktion hinfällig ist."

 

Über Funk war die Einsatzzentrale nicht zu erreichen, zu dicht war der Funkverkehr. Er konnte sein Meldung nicht loswerden.

"Burckhardts Handy", sagte Schwab zu ihm. Er nickte und wählte gleich die entsprechende Nummer. Ihr Wagen war bereits auf dem Claragraben, und vorne war zu sehen, wie die schwarze Limousine nach links auf die Feldbergstrasse abbog. Sie wollten wohl über die Johanniterbrücke den Rhein überqueren.

"Haben sie gleich", sagte Schwab, während im Telefon das Rufzeichen ertönte.

"Nur nicht zu nah aufschliessen, Schwab, sonst ..." Er unterbrach sich als Burckhardt abnahm.

"Tanner hier. Die Entführer hauen ab, samt Anne. Schwab und ich verfolgen sie."

"Scheisse", rief der Chef. "Die ganze Aktion für die Füchse. Wir müssen umdisponieren. Strassensperren einrichten und ..."

"Vergiss es", sagte Tanner. "Dazu müssten wir schon im Voraus wissen, wohin sie fahren wollen."

"Wir müssen es dennoch versuchen. Wir brauchen von Euch laufend Informationen, wo sie gerade sind. Auf jeden Fall machen wir einmal die Autobahnauffahrten dicht und informieren die Grenzwache. Haben sie übrigens schon bemerkt, dass sie verfolgt werden?"

Tanner schaute nach vorne und stellte fest, dass die Limousine sich an die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit hielt, während sie die Johanniterbrücke überquerte.

"Es sieht nicht so aus", antwortete er.

"Sie dürfen nichts merken, sonst versuchen sie womöglich zu fliehen. Und das bringt Anne und viele andere Verkehrsteilnehmer in Gefahr."

"Alles klar. Schwab bleibt immer zwei bis drei Autos hinter den Entführern." Er schaute seinen Kollegen an, ob dieser verstanden hatte. Schwab nickte ihm zu.

"Kennen sie euren Wagen", fragte ihn Burckhardt. Er dachte kurz nach und kam zum Schluss, dass der Maserati den Entführern noch unbekannt sein müsste.

"Dort vorne kommt eine Ampel. Jetzt wird es schwierig", rief unvermittelt die Kliebenschädel vom Rücksitz. Sie hatte Recht. Sie durften sich dort nicht abhängen lassen. Das konnte wegen der fremden Autos zwischen ihnen und der Limousine ein Problem sein.

"Wer hat da gesprochen?", fragte Burckhardt am Telefon.

Tanner seufzte. "Die Kliebenschädel", antwortete er kurz.

"Was? Bist du wahnsinnig?", rief sein Chef. "Du kannst doch die Presse nicht mitnehmen. Da bekommen wir grösste Schwierigkeiten mit den Juristen von wegen Formfehlern ..."

"Was hätte ich tun sollen", unterbrach er Burckhardt. "Sie hat sich völlig überraschen in unseren Wagen gedrängt als wir unter höchstem Zeitdruck losfahren mussten."

"Scheisse. Und ausgerechnet die Kliebenschädel."

"Ich kann sie ja nicht aus dem fahrenden Wagen schmeissen."

"Wagen Sie's nur", keifte die Reporterin los. "Das gäbe einen Artikel auf der morgigen Frontseite vom Blatt ..."

"Schon gut. Lass' sie drin", sagte der Kripochef. "Dieses Problem lösen wir später. Jetzt muss vor allem diese Entführung bewältigt werden. Wo seid ihr?"

"Wir fahren gerade die Schanzenstrasse hoch. Mist, da kommt schon die nächste Ampel, natürlich auch rot."

"Ihr dürft sie nicht verlieren. Warte, ich schalte das Telefon auf Lautsprecher. Dann hören hier gleich alle was los ist und können sofort reagieren. Was vermutest du, wo sie hinwollen?"

"In Richtung Autobahn wohl eher nicht", überlegte er. "Sonst wären sie sicher die Feldbergstrasse in Richtung Riehenring und Badischer Bahnhof gefahren. Es sieht eher so aus, als ob sie irgendwie zur französischen Grenze möchten - falls sie Basel verlassen wollen."

Hinter ihm raschelte es, als die Kliebenschädel ihren Notizblock umblätterte. Er drehte sich zu ihr um und sah, wie sie hektisch schrieb. Sie bemerkte seinen Blick und schaute zu ihm hoch.

"So ein Glück! Das Blatt hautnah an einer Verfolgungsjagd beteiligt. Das gibt einen Wahnsinnsartikel!"

Er hatte einen bissigen Kommentar auf den Lippen, als die Ampel auf grün wechselte und Schwab losfuhr. Und sofort wieder bremste, denn der silberfarbene Kleinwagen vor ihnen, der von einem älteren Mann gelenkt wurde, stand immer noch still. Erst als Schwab hupte, bemerkte der Fahrer, dass es weiterging. Gemächlich fuhr er los. Dennoch schafften sie es über die Ampel.

"Hoffentlich hat das Hupen die Entführer nicht auf uns aufmerksam gemacht", sagte Tanner zu Schwab.

"Seid ihr noch dran?", fragte Burckhardt aus dem Telefon.

"Sie fahren die Schönbeinstrasse hoch in Richtung Spalentor", antwortet er. "Wir sind immer noch zwei Wagen hinter ihnen. Jetzt blinkt er nach rechts. Er will in die Missionsstrasse hinein."

"Aha! Du könntest Recht haben mit der Vermutung, dass sie nach Frankreich wollen. Da geht es über die Burgfelderstrasse zum Grenzübergang. Wir alarmieren die Grenzwache."

"Hoffentlich ist der Posten besetzt. Seit diesem Schengen-Abkommen sind unsere Grenzer nur noch sporadisch dort."

"Wir versuchen, auch die Franzosen zu informieren. Aber bis wir bei denen den Zuständigen gefunden haben, wird es wohl schon zu spät sein. Da sind sie längst ausser Land."

"Dann müssen wir hinterher."

"Kein Problem, dafür gibt es ja seit Kurzem diesen Staatsvertrag. Ihr könnt sie auch in Frankreich verfolgen."

"Herr Tanner", sagte Schwab. "Wir sind allein." Er deutete nach vorn. Tatsächlich hatten sie nun kein fremdes Fahrzeug mehr zwischen sich und den Entführern. Diese fuhren nur etwa dreissig Meter vor ihnen, immer noch mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit.

Die Missionsstrasse war auf beiden Seiten mit parkierenden Autos voll gestellt. Lücken gab es nur vor Gebäudezufahrten. Der Autoverkehr teilte sich den verbleibenden Platz auf der Strasse mit zwei Strassenbahnspuren.

"Fahren Sie dort in die Lücke", rief Tanner Schwab zu. Der reagierte sofort und liess seinen Maserati aus dem Blickfeld der Limousine verschwinden. "Jetzt warten wir ein paar Sekunden, dann geht's wieder hinterher."

"Das ist ja wie im Film", sagte die Reporterin auf dem Rücksitz. Sie hatte eine kleine Digitalkamera in der Hand und schoss ein Foto von Schwab, der hochkonzentriert hinter dem Steuer sass. "Den Gegner verfolgen, dann verstecken und schliesslich wieder hinterher. Und ich bin dabei ..."

"Schön, dass Sie das begeistert. Ich kann nur hoffen, dass die Entführer uns nicht bemerken und so Gefahr für Anne entsteht", antwortete Tanner.

"Fahre wieder los", presste Schwab zwischen den Zähnen durch. Und schon waren sie wieder auf der Strasse. Die Entführer waren schon fast bei der nächsten Kreuzung.

"Wir fahren weiter in Richtung Burgfelderstrasse", berichtete Tanner dem Chef. "Die Entführer sind etwa hundertfünfzig Meter vor uns.

"Wir alarmieren gerade die Kollegen vom Polizeiposten in der Nähe", antwortete dieser. "Die Grenzwache hat gemeldet, dass der Übergang St. Louis von ihnen zurzeit nicht besetzt ist. Wir versuchen, die Franzosen zu erreichen."

"Da ist noch einer", sagte Schwab plötzlich zu Tanner und deutete nach hinten. Er wandte sich um und blickte aus dem Rückfenster. Auch die Kliebenschädel sah nach hinten. Tatsächlich! Eine schwarze Limousine, identisch mit der vor ihnen, fuhr unmittelbar hinter ihnen. Und am Steuer sass ein Mann mit dunkler Sonnenbrille und Anzug. Der Wagen setzte zum Überholen an.

"Lasse ich nicht vorbei", sagte Schwab in sachlichem Tonfall und trat das Gaspedal durch. Tanner erhielt einen Schlag in den Rücken, als die vierhundert Pferdestärken des Maseratis den Wagen vorwärts katapultierten. Der Kliebenschädel fiel die Kamera aus der Hand, als sie Halt suchend umherfuchtelte.

"Was ist los?", fragte Burckhardt aus dem Telefon.

"Die haben eine Rückendeckung. Schlaue Kerle", antwortete Tanner.

Vor ihnen lag die Strasseninsel der Haltestelle Pilgerstrasse. Schwab folgte der Strasse, die bogenförmig rechts um die Insel herum führte. Ihr Verfolger fuhr auf der Strassenbahnspur geradeaus. Dennoch war Schwab nach der Insel vor ihm auf der geraden Strecke.

"Wahnsinn", keuchte die Reporterin. "Eben noch waren wir die Verfolger - und nun sind wir selbst auf der Flucht." Sie drückte sich an die Lehne von Tanners Sitz und klammerte sich an seine Kopfstütze. Er sah, dass ihre Augen vor Begeisterung glänzten.

"Sie sind sich über den Ernst der Lage nicht im Klaren. Dort vorne flüchten Entführer mit meiner Freundin als Geisel. Wir fahren in einem Höllentempo durch eine belebte Strasse. Jeden Moment kann ein Kind zwischen den parkierten Autos hervor rennen. Hinter uns haben wir einen Geheimagenten, der uns stoppen will. Sie sollten beten, dass wir ohne Unfall aus dieser Sache herauskommen!"

"Ach was, Harr Schwab hat das im Griff", winkte sie ab. Doch dann wurden ihre Augen gross, als sie nach vorne aus dem Fenster schaute. Er sah ihren Blick und wandte sich ebenfalls nach vorne. Sie näherten sich der nächsten Kreuzung. Die Ampel war noch grün, aber sicher nicht mehr lange. Rechts auf der Querstrasse wartete eine Strassenbahn darauf, dass sie die Kreuzung überqueren konnte. Schon wechselte die Ampel auf gelb, dann auf rot ... aber Schwab fuhr zu.

"Das klappt", sagte er nur, wich der losfahrenden Strassenbahn mit einem Schwenker nach links aus. Tanner schaute nach hinten. Die Strassenbahn fuhr weiter. Lautes Reifenquietschen verriet, dass ihr Verfolger dahinter abrupt bremste.

"Schwab hat sie mit einer Strassenbahn ausgebremst", meldete er der Zentrale. "Vielleicht sind wir sie los."

Als die Bahn weg gefahren war, sah er den Agentenwagen in der Kreuzung stehen, umringt von hupenden Autos. Aber schon trat der Fahrer aufs Gas und nahm die Verfolgung wieder auf.

"War wohl nichts, da kommt er schon wieder angebraust", sagte die Kliebenschädel. Rücksichtslos fuhr der Wagen über die Kreuzung und holte schnell auf, während Schwab das Tempo drosseln musste, um dem vor ihm fahrenden Entführerwagen nicht zu nahe zu kommen. Kurz vor der nächsten Kreuzung setzte ihr Verfolger zum Überholen an. Genau im Kreuzungsbereich war er auf Höhe des Maseratis.

"Festhalten", rief Schwab und bog im letzten Moment nach rechts ab. Ihr Verfolger konnte nicht mehr reagieren und fuhr geradeaus.

"Super ausgebremst, Schwäblein", rief die Reporterin mit Begeisterung.

"Ja, super", antwortete Tanner bitter. "Jetzt sind die Entführer so gut wie entkommen. Sie haben uns ins Abseits gefahren, Schwab. Genau das wollte der zweiten Wagen erreichen."

"Was ist los bei euch?", wollte Burckhardt von ihm wissen.

"Der Kerl hat uns kurz vor dem Kannenfeldpark abgedrängt", antwortete er. "Wir sind jetzt in der Strassburger Allee."

"Fahre um den Park herum. Geht ganz schnell", sagte Schwab. Er wirkte wie die Ruhe selbst, gab Gas, was der Motor hergab. Wieder drückte es Tanner in den Sitz hinein, und die Kliebenschädel flog förmlich nach hinten.

"Schalten Sie Blaulicht und Martinshorn ein, Schwab. Wir sind ohnehin entdeckt. So hören uns wenigstens die Unbeteiligten und können ausweichen."

Mit dröhnendem Triebwerk und gellendem Horn rasten sie über den Kannenfeldplatz. Wie durch ein Wunder waren keine Fussgänger oder Radfahrer in Sicht. Die wenigen Autos überholte Schwab auf der Strassenbahnspur. Dann hetzte der Maserati in die Flughafenstrasse hinein. Auf der linken Seite flog der hinter einer hohen Mauer liegende Kannenfeldpark vorbei. Als sie am Osttor des Parks vorbei fuhren, sah Tanner die schwarze Limousine aus dem Tor heraus rasen und sich mit quietschenden Reifen direkt hinter ihnen in den Verkehr einfädeln.

"Verdammt da ist er wieder", rief er ins Telefon. "Er ist durch den Kannenfeldpark hindurch gefahren und jetzt wieder hinter uns auf der Flughafenstrasse."

"Durch den Kannenfeldpark?" Das Entsetzen des Chefs war deutlich zu hören. "Der ist doch jetzt sicher voller Leute. Hoffentlich hat er niemanden verletzt. Schwab soll um Himmels Willen vorsichtig fahren."

"Tut er doch immer." Tanner klammerte sich fester an den Haltegriff über seiner Tür. Es war natürlich Ansichtssache, was man bei Schwab als vorsichtig bezeichnete.

"Der Kerl ist gut", knurrte Schwab anerkennend."

"Und er kennt die Stadt", stimmt er zu.

"Der wusste genau, was wir wollten, der Mistkerl", rief die Kliebenschädel, die ihre Kamera mittlerweile wieder in der Hand hatte. Sie schoss eine Aufnahme ihres Verfolgers aus dem Rückfenster. Plötzlich schrie sie. "Der schiesst auf uns!"

Tanner schaute zurück. Der Agent hatte sein Seitenfenster heruntergedreht und zielte mit einer grosskalibrigen Pistole auf ihren Wagen.

"Runter", befahl er laut. Die Kliebenschädel warf sich platt auf die Rückbank.

"Schwab, wir müssen ihn loswerden", rief er seinem Kollegen zu. "Endgültig."

Und schon hörte er einen Schuss peitschen.

"Habe eine Idee", sagte Schwab und deutete nach vorne.

"Wollen Sie durch die Glaserbergstrasse", fragte er Schwab. "Aber das ist eine Dreissigerzone." Vor seinem geistigen Auge sah er ihren Wagen in einen der Poller rasen, die zur Verkehrsberuhigung am Rand der schmalen Strasse angebracht waren. Aber schon bog Schwab nach links in die enge Quartierstrasse ein, wo abwechselnd rechts und links Autos parkten. Er schlängelte sich gekonnt hindurch. Das machte das Zielen für den Verfolger unmöglich. Dann flog der Maserati fast über eine der Schwellen in der Strasse, welche die Verkehrsteilnehmer zur Mässigung ihrer Geschwindigkeit bewegen sollten. Dahinter machten Poller die Strasse eng, Schwab wich auch diesen gekonnt aus.

"Wussten Sie, dass es hier für unseren Verfolger schwierig sein würde, auf uns zu schiessen?", fragte die Kliebenschädel, die von den vielen Kurven hin und her geworfen wurde.

"Wir kennen unsere Stadt auch", antwortet Tanner mit einem kleinen Lächeln. Ein Blick nach hinten zeigte ihm, dass ihr Verfolger zwar etwas zurück gefallen war, aber immer noch an ihnen hing.

"Da vorne, ein Kind", schrie die Kliebenschädel plötzlich. Ein kleines Mädchen fuhr auf seinem Kinderfahrrad von rechts aus dem Kannenfeldweglein in die Quartierstrasse hinein, ohne zu schauen. Schwab trat voll auf die Bremse. Das Mädchen erschrak vom Quietschen der Reifen und fiel hin. Schwab riss das Steuer nach links, wo sich das schmale Kannenfeldweglein fortsetzte. Es gelang ihm, quer vor dem Mädchen zum Stehen zu kommen.

"Wenn das Tor offen ist, können wir hier weiter fahren, in den Park hinein", sagte Tanner hastig zu Schwab. Der nickte nur, legte den ersten Gang ein und fuhr in das Weglein hinein, das kaum breit genug für seinen Wagen war.

Tanner sah hinter ihnen, dass das Mädchen schon wieder stand und schreiend weg lief. Sein Rad liess es auf der Strasse liegen. Keine Sekunde zu früh. Der Verfolger reagierte nicht so gut wie Schwab. Sein Schwung trug ihn trotz Vollbremsung über die Abzweigung hinaus und der Wagen zermalmte das rosarote Fahrrad. Ohne sich darum zu kümmern, stiess er mit qualmenden Reifen zurück und folgte ihnen durch das Weglein. Sein ausscherendes Heck rasierte die Buchsbaumhecke auf der Seite weg.

Das Tor zum Park war offen. Sie erreichten die Kieswege, und Schwab steuerte den Wagen um die erste Kurve. Eine Staubwolke erhob sich hinter ihnen. Vom Martinshorn gewarnte Mütter rissen ihre auf dem Spielplatz spielenden Kinder an sich und brachten sie in Sicherheit.

"Was ist los bei Euch?" rief Burckhardt aus dem Telefon.

"Unser Verfolger schiesst, keine Zeit für Erklärungen", antwortete Tanner hastig.

"Mal sehen, ob unser Freund Rallye-Erfahrung hat", sagte Schwab, verlangsamte und schaute in den Rückspiegel. Schon kam der Agent aus dem Weglein geschossen und legte seinen Wagen in die Kurve. Die Limousine schlitterte auf dem rutschigen Untergrund weg, drehte sich um die Achse, glitt auf den angrenzenden Rasen hinaus und landete in einem Gebüsch.

"Aha", sagte Schwab, mit zufriedenem Grinsen und fuhr langsam in Richtung zum runden Platz in der Mitte des Parks.

"Sie sind Rallyefahrer?", fragte die Kliebenschädel mit bewunderndem Tonfall.

"Nicht mehr", antwortete Schwab. "Werde den Kerl auf dem Platz abhängen." Er wartete bis der Verfolger wieder auf dem Schotterweg war, mit immer noch wild durchdrehenden Rädern um die Fahrtrichtung kämpfend. Dann gab Schwab genau so viel Gas, das der Agent in knapp zwei Meter Abstand hinter ihnen herfahren konnte. Bald erreichten sie die Wegkreuzung des runden Platzes, wo rundherum metergrosse Steinskulpturen von stilisierten Tieren standen. Im letzten Moment drehte Schwab nach rechts weg, fing das ausscherende Heck mit Gegensteuer und Vollgas ab und raste in Richtung des westlichen Parktors.

Tanner sah, dass der Verfolger von Schwabs Manöver überrascht wurde. Er versuchte zwar noch, die Kurve zu nehmen, schaffte es aber nicht ganz, krachte frontal in eine granitene Seehundskulptur, riss sie vom Sockel und blieb mit zerstörtem Motorraum stehen.

"Hält auch so ein Wagen nicht aus", sagte Schwab und fuhr weiter in Richtung Ausgang. Die Gäste der Cafeteria beim Tor waren längst aufgestanden und starrten dem mit dröhnendem Motor und Sirene heranrasenden Maserati entgegen.

Da ging die Limousine in einem gewaltigen Feuerball in die Luft.

"Mein Gott", rief die Reporterin. Ihr Gesicht war vor Aufregung gerötet. Sie schoss sofort ein paar Fotos vom brennenden Autowrack. "Ich dachte immer, Autos könnten nicht so explodieren", sagte sie heiser.

"Ja, erstaunlich", antwortete Tanner. Eigentlich hatte sie Recht, aber wer wusste schon, was in diesem Agentenwagen alles drin steckte.

"Auftrag ausgeführt", teilte ihm Schwab im Plauderton mit. "Sind wir endgültig los."

"So war das nun auch wieder nicht gemeint", antwortete er mit schiefem Grinsen. "Damit werden wir noch eine Menge Ärger haben."

"Womit werdet ihr Ärger haben", fragte Burckhardt aus dem Telefon.

"Unser Verfolger hatte einen Unfall. Im Kannenfeldpark. Kannst Du bitte Feuerwehr und Rettung hinbeordern?"

"Feuerwehr? Rettung?" schrie der Chef. Es war förmlich zu hören, wie seine Augen aus den Höhlen treten wollten. "Was habt ihr dort angerichtet?"

"Ich habe jetzt keine Zeit für Erklärungen. Immerhin gab es keine Opfer unter den Passanten. Wir haben die Entführer natürlich verloren, fahren aber trotzdem weiter in Richtung Grenze. Wissen die Franzosen Bescheid, dass wir kommen?"

"Jaja, das ist in Ordnung." Burckhardts Stimme klang belegt. "Die Gendarmerie weiss von der Verfolgung. Den Grenzposten haben wir noch nicht erreicht. Wie auch immer. Schwab soll seinen Pferden die Sporen geben."

"Habe ich gehört", sagte Schwab, bog auf die Burgfelderstrasse ein und gab dem Maserati die Sporen.

Die Kliebenschädel schien sich vom Schreck der Explosion erholt zu haben. Sie klebte wieder an Tanners Rücklehne und schaute aus der Windschutzscheibe. Dann deutete sie auf das rasend schnell näher kommende Felix-Platter-Spital. "Wenn wir jetzt einen Unfall haben, sind wir wenigstens nah an der nächsten Notfallstation."

"Und wenn's schlimm kommt, liegt weiter vorn das Paraplegikerzentrum", ergänzte Schwab. Tanner konnte nur staunen. So wortreich und voll schwarzem Humor hatte er seinen Kollegen noch selten erlebt. Ob das wohl das Adrenalin ausmachte?

Wenig später schossen sie am Paraplegikerzentrum vorbei. Schwab verlangsamte, als sie zum Zoll kamen. Dort herrschte grosse Aufregung unter den französischen Grenzwächtern. Schwab drehte das Seitenfenster hinunter, schaltete die Sirene aus. "Schwarze Limousine?", fragt er nur. Der Grenzwächter nickte, gestikulierte wild und liess einen Schwall Französisch auf ihn los.

Sie waren den Entführern also noch auf den Fersen.