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Er seufzte. Natürlich nützte es nichts, wenn er sich darüber aufregte, aber es riss einfach an den Nerven. Jeden Morgen das gleiche Theater. Hunderte Menschen wollten mit der gleichen Strassenbahn wie er zur Arbeit fahren. Mit der Zwölf-Minuten-Nach-Sieben. Eigentlich käme er damit genau zur richtigen Zeit zum Institut, aber sie hatte immer Verspätung. Aber deswegen auf eine frühere Bahn zu gehen, dass war aus Prinzip nicht möglich.

Und diese Gerüche in den brechend vollen Wagen. Manchmal wurde ihm fast übel. Am schlimmsten war es im Sommer, wenn die Leute schwitzten und ihre Deos kläglich versagten. Jetzt, im Frühling, ging es noch, aber viele der Fahrgäste schienen Knoblauchzehen zu frühstücken. Während sie ein Päckchen Zigaretten rauchten. Das alles musste er auf nüchternen Magen erdulden, weil er so kurz nach dem Aufstehen einfach nichts essen konnte. Wenigstens musste er es nur noch heute aushalten, dann hatte er ein zwei Tage frei. Er freute sich auf die Bergwanderung, die er und sein alter Kumpel Pirmin seit ein paar Jahren in dieser Jahreszeit immer machten.

Und jetzt stieg zu allem Übel auch noch seine Chefin direkt vor ihm ein.

"Guten Morgen, Frau Löbinger", sagte er, so freundlich es ging.

"Wie?", hauchte sie. Er hatte sie offenbar aus den Gedanken gerissen. Sie schaute um sich, bis sie ihn entdeckte und erkannte.

"Ach, Sie sind's, Herr Färber. Ja, auch guten Morgen."

Schon wanderte ihr Blick wieder von ihm weg; offenbar kehrte sie in ihre Gedankenwelt zurück. Auch gut. Wenn sie nicht reden wollte, war das ihre Sache.

Die nächste Haltestelle, noch mehr Fahrgäste. Er schickte einen resignierten Blick Richtung Himmel. Wegen der zusätzlichen Leute in der Bahn wurde er gegen seine Chefin gedrängt. Das war nicht gerade angenehm. Nicht dass die Löbinger unappetitlich gewesen wäre, im Gegenteil, aber sie war nun mal seine Chefin. Und ausserdem war sie immer so distanziert, da war kein warm werden mit ihr. Sie hingegen schien die Berührung gar nicht zu bemerken, war irgendwie total abwesend.

Da zwängte sie ihren rechten Arm zwischen ihnen hoch und rieb sich die Augen. Hatte wohl nicht ganz ausgeschlafen heute. Sie blinzelte noch ein paar Mal, wie wenn sie eine Trübung loswerden wollte. Dann wieder dieses abwesende Starren.

Vielleicht dachte sie ja an das Desaster vom letzten Freitag. Er hatte ganz schön zu tun gehabt mit Aufräumen, weil - ist ja klar - das war Arbeit für den kleinen Laboranten, Frau Doktor machte sich die Hände doch nicht schmutzig. All das zerbrochene Glas aufräumen, Reagenzien aufputzen und entsorgen. Wer das wohl angerichtet hatte? Sie hatte ihm nur gesagt, dass sie Besuch gehabt habe. Vielleicht war das ja diese Dame gewesen, die er auf dem Gang kurz gesehen hatte. Aber das konnte eigentlich nicht sein. So eine schöne und elegante Frau würde doch niemals ein Labor verwüsten.

Oder machten sie die Machtkämpfe im Institut so müde? Der Schweininger hatte ihr wohl wieder einen Stachel gesetzt. Während er aufräumte hatte sie etwas von einer Testlösung gesagt, die er ihr hingeknallt habe. Ohne zu sagen, warum oder wieso. Nur, dass sie ohne jegliche Sicherheitsvorkehrungen damit umgehen könne. Habe ihr zeigen wollen, dass er als ihr Vorgesetzter keine Erklärungen schuldig sei. Na, da war man als Laborant ohne Karrierepläne besser dran.

Er spürte die Hände der Löbinger an seinem Arm - sie klammerte sich förmlich daran! Grundsätzlich hatte er ja nichts dagegen einzuwenden, wenn sich eine attraktive Frau an ihm festhielt, aber bei der Chefin war das etwas anderes. Sie schaute ihn aber ganz erschrocken an, wie wenn sie über ihre Annäherung selbst erstaunt wäre.

"Entschuldigen Sie", sagte sie stockend, "mir sind ganz plötzlich die Beine weich geworden. Ich weiss auch nicht was los ist." Ihre Sprechweise war irgendwie schleppend, wie wenn sie besoffen wäre und die Zunge nicht mehr so richtig wollte.

"Null Problemo, ich mache gerne Ihren Rettungsanker." Was sagte er denn da? Also, das war doch wohl - sich bei der Chefin so plump anzubiedern ...

Die Strassenbahn hielt wieder an und noch mehr Menschen stiegen ein. Noch zwei Haltestellen und dann musste er aussteigen. Bei diesem Gedränge konnte das zu einem Problem werden.

Die Löbinger, die ihn immer noch festhielt und nun wirklich eng an ihn gepresst wurde, atmete jetzt ganz tief. Sie schaute richtig angstvoll - und blinzelte wieder mit den Augen. Und nun stöhnte sich auch noch. Ihr Griff an seinem Arm lockerte sich. Sie hatte sichtlich Mühe beim Atmen. Machte sie jetzt einen Herzinfarkt? Aber sie war doch so sportlich ...

Sie sank an seinem Bein nach unten, die Augen weit aufgerissen. Und langsam wurden ihr die Lippen blau, wie wenn sie nicht genug Sauerstoff bekäme. Nein, das kann kein Herzinfarkt sein. Vielleicht ein Nervenzusammenbruch? Er versuchte sie zu halten, aber sie entglitt seinem Griff. Verdammt! Wie war das schon wieder in diesem Kinofilm gewesen? Da war doch auch jemand in einer Menschenmenge mir-nichts-dir-nichts umgefallen. Weil der Typ ein unheimlich aggressives Virus hatte. Halb New York war nachher dran krepiert.

"Kann mir mal einer helfen?" rief er. "Hier geht es jemandem schlecht." Aber alle wichen seinem Blick aus, wie wenn sie nichts gehört hätten. Die feigen Schweine. Die Löbinger bewegte die Lippen und keuchte. Versuchte sie ihm etwas zu sagen? Ihre Augen verdrehten sich und jetzt wurde auch ihr Gesicht ganz blau. Verdammt, das musste so ein Killervirus sein!

"Hilfe, sie stirbt", schrie er. Keiner half, aber allmählich hatte er Platz um sich. Die anderen rückten von ihm und der Löbinger weg. Ein grosses Schimpfen ging los. Jemand fiel hin - kaum zu glauben, dass das in diesem Gedränge möglich war - und schrie wie am Spiess.

"Kann mal jemand die Notbremse ziehen", brüllte er, und kniete sich neben die Löbinger. Virus hin oder her, sie brauchte Hilfe. Beatmen! Wie ging das schon wieder? Ja, Mund zuhalten und durch die Nase blasen. Aber er konnte die nun völlig schlaffe Löbinger nicht richtig halten, immer mehr trampelnde Füsse waren da. Die Tritte schmerzten. Er musste hier raus, obwohl, angesteckt hatte er sich sicher schon und war längst dem Tod geweiht.

"Ein Killervirus", schrie er. "Die hat einen Killervirus. Lasst mich raus." Er liess die Löbinger fallen und drängte zur Tür und versuchte, die anderen wegzustossen. Er schlug um sich, riss an Kleidern, biss in Arme. Rundherum schrieen und fluchten die Leute. Einige stimmten in seine Viruswarnung ein, und endlich zog jemand den Nothebel. Die Bremsen quietschten schrill, alle stürzten durcheinander. Er hörte nur noch Schreie und spürte kaum mehr die Tritte und Knüffe, die er erhielt. Ein paar rissen an der Tür. Endlich ging sie auf. Jetzt nur raus hier. Er drückte und drängte, kletterte über gestürzte Menschen - und plötzlich war er draussen!

Frische Luft. Endlich frische Luft - und Platz. Er rannte ein paar Schritte von der Strassenbahn weg. Dann blieb er stehen. Sein Atem ging schwer. Er hörte immer noch Schreie, Flüche und viele aufgeregte Stimmen.

Die Löbinger! Wo war die Löbinger? Er hastete zur verlassenen Bahn zurück und schaute hinein: Da lag sie. Auf dem schmutzigen Strassenbahnboden. Verlassen, verkrümmt. Die Augen schauten schreckgeweitet nach oben. Und nichts regte sich an ihr.