Montag

2          Der Todesfall in der Strassenbahn

Marco Felber seufzte. Natürlich nützte es nichts, wenn er sich darüber aufregte, aber es riss ihm schon gewaltig an den Nerven. Jeden Morgen das gleiche Theater. Hunderte Menschen wollten, wie er, mit der Strassenbahn zur Arbeit fahren. Und zwar mit der, die um zwölf Minuten nach Sieben fuhr. Eigentlich käme er damit genau zur richtigen Zeit zur Arbeit im Institut, aber immer hatte diese Bahn Verspätung. Und immer war sie brechend voll. Und dann diese Gerüche im Wagen. Manchmal wurde ihm fast übel. Am schlimmsten fand er es jeweils im Sommer, wenn die Leute schwitzten und alle Deos kläglich versagten. Jetzt im Frühling ging es ja noch, aber viele der Mitfahrenden schienen Knoblauchzehen zu frühstücken. Und rauchten dazu ein Päckchen Zigaretten. Und das alles musste er auf nüchternen Magen erdulden, weil er so kurz nach dem Aufstehen einfach nichts essen konnte.

Und heute stand zu allem Unglück auch noch die Löbinger, seine Chefin, direkt vor ihm.

„Guten Morgen, Frau Löbinger", sagte er, so freundlich es ging.

„Wie?", hauchte sie. Er hatte sie offenbar aus den Gedanken gerissen. Sie schaute um sich, bis sie ihn entdeckte und erkannte.

„Ach, Sie sind's. Ja, auch guten Morgen."

Sofort wanderte ihr Blick wieder von ihm weg; offenbar kehrte sie in ihre Gedankenwelt zurück. Auch gut. Wenn sie nicht reden wollte, war das ihre Sache.

Die nächste Haltestelle, noch mehr Fahrgäste. Marco schickte einen resignierten Blick Richtung Himmel. Wegen der zusätzlichen Leute in der Strassenbahn wurde er gegen seine Chefin gedrängt. Das fand er nicht gerade angenehm. Nicht dass die Löbinger unappetitlich gewesen wäre, im Gegenteil, aber sie war nun mal seine Chefin. Und ausserdem war sie immer so distanziert, da war kein warm werden mit ihr. Sie hingegen schien die Berührung gar nicht zu bemerken, war irgendwie total abwesend.

Da zwängte sie ihren rechten Arm zwischen ihnen hoch und rieb sich die Augen. Hatte wohl nicht ganz ausgeschlafen heute. Sie blinzelte noch ein paar Mal, wie wenn sie eine Trübung loswerden wollte. Dann wieder dieses abwesende Starren.

Vielleicht dachte sie ja an das Desaster vom letzten Freitag. Er hatte ganz schön zu tun gehabt mit Aufräumen, weil - ist ja klar - das war Arbeit für den kleinen Laboranten, Frau Doktor machte sich die Hände doch nicht schmutzig! All das zerbrochene Glas aufräumen und die diversen Reagenzien aufputzen und entsorgen. Wer das wohl angerichtet hatte? Sie selbst hatte es sicher nicht getan. Sie hatte ihm nur gesagt, dass sie Besuch gehabt habe. Vielleicht war das ja diese Dame gewesen, die er auf dem Gang kurz gesehen hatte. Aber das konnte eigentlich nicht sein. So eine kultivierte Frau würde doch niemals ein Labor verwüsten.

Oder war sie von den Machtkämpfen im Institut so müde? Irgendwie hatte ihr wohl der Schweinsteiger wieder einen Stachel gesetzt. Beim Aufräumen hatte sie etwas erzählt von einer Testlösung, die er ihr hingeknallt habe. Ohne ihr zu sagen, warum oder wieso, nur, dass sie ohne jegliche Sicherheitsvorkehrungen damit umgehen könne. Nur um ihr zu zeigen, das er als ihr Vorgesetzter keine Erklärungen schuldig sei. Na, da war man als Laborant ohne Karrierepläne doch besser dran!

Da spürte er plötzlich die Hände der Löbinger an seinem Arm - sie klammerte sich förmlich daran! Grundsätzlich hatte er ja nichts dagegen einzuwenden, wenn sich eine attraktive Frau an ihm festhielt, aber bei der Chefin war das etwas anderes. Sie schaute ihn allerdings ziemlich erschrocken an, wie wenn sie über ihre Annäherung selbst erstaunt wäre.

„Entschuldigen Sie", stammelte sie, „mir sind ganz plötzlich die Beine weich geworden. Ich weiss auch nicht was los ist." Ihre Sprechweise war irgendwie schleppend, wie wenn sie besoffen wäre und die Zunge nicht mehr so richtig wollte.

„Null Problemo, ich mache gerne Ihren Rettungsanker." Ungläubig hörte er seine eigenen Worte. Was sagte er denn da? Also, das war doch wohl - sich bei der Chefin so plump anbiedern! Er musste sich zusammenreissen.

Die Strassenbahn hielt wieder an und noch mehr Menschen stiegen ein. Noch zwei Haltestellen und dann musste er aussteigen. Bei diesem Gedränge konnte das zu einem Problem werden.

Auweih, was soll das nun werden? Die Löbinger, die ihn immer noch festhielt und nun wirklich eng an ihn gepresst war, atmete plötzlich ganz tief. Sie schaute richtig angstvoll - und blinzelte wieder mit den Augen. Und nun stöhnte sich auch noch. Ihr Griff an seinem Arm lockerte sich. Sie hatte sichtlich Mühe beim Atmen. Machte die jetzt einen Herzinfarkt? Aber die Löbinger war doch voll sportlich ...

Sie sank an seinem Bein nach unten, die Augen weit aufgerissen, offenbar in Panik. Und langsam wurden ihr die Lippen blau, wie wenn sie nicht genug Sauerstoff bekäme. Nein, das kann kein Herzinfarkt sein. Vielleicht ein Nervenzusammenbruch? Er versuchte sie zu halten, aber sie entglitt seinem Griff. Verdammt! Wie war das schon wieder in diesem Kinofilm gewesen? Da war doch auch jemand in einer Menschenmenge mir-nichts-dir-nichts umgefallen. Weil der Typ einen unheimlich aggressiven Virus hatte. Halb New York war nachher dran krepiert.

„Kann mir mal einer helfen?" hörte Marco sich rufen. „Hier geht es jemandem schlecht." Aber alle rundherum wichen seinem Blick aus, wie wenn sie nichts gehört hätten, die feigen Schweine. Die Löbinger bewegte die Lippen und keuchte. Versuchte sie ihm etwas zu sagen? Ihre Augen verdrehten sich und jetzt wurde auch ihr Gesicht ganz blau. Verdammt, das musste so ein Killervirus sein!

„Hilfe, sie stirbt", schrie er. Keiner reagierte, aber jetzt hatte er plötzlich Platz um sich. Die anderen rückten von ihm der Löbinger weg. Ein einziges Schimpfen ging los. Jemand fiel hin - kaum zu glauben, dass das in diesem Gedränge möglich war - und schrie wie am Spiess, Oh, Scheisse!

„Kann mal jemand die Notbremse ziehen", brüllte er, und kniete sich neben die Löbinger. Virus hin oder her, sie brauchte Hilfe. Beatmen! Wie ging das schon wieder? Ja, Mund zuhalten und durch die Nase blasen. Aber er konnte die nun völlig schlaffe Löbinger nicht richtig halten, immer mehr trampelnde Füsse waren da. Die Tritte schmerzten. Ich halte das nicht mehr aus hier drin, dachte Marco. Wahrscheinlich habe ich mich angesteckt.

„Ein Killervirus", schrie er, ohne es eigentlich zu wollen. „Die hat einen Killervirus. Lasst mich raus." Er drängte zur Tür und versuchte, die anderen wegzustossen. Er schlug auf sie ein, riss an Kleidern, biss in Arme. Rundherum schrieen und fluchten auch die anderen Leute. Einige stimmten in Marcos Viruswarnung ein, und endlich zog jemand den Nothebel. Die Bremsen quietschten schrill und alle fielen durcheinander. Er hörte nur noch Schreie und spürte kaum mehr die Tritte und Knüffe, die er erhielt. Ein paar rissen an der Tür. Endlich ging sie auf. Jetzt nur raus hier. Er drückte und drängte, stieg über gestürzte Menschen - und endlich war er draussen!

Frische Luft. Endlich frische Luft - und Platz. Er rannte ein paar Dutzend Schritte von der Strassenbahn weg. Dann blieb er stehen. Er atmete schwer, hörte immer noch Schreie, Flüche und viele aufgeregte Stimmen. Es war ihm plötzlich, als ob er einen Film anschauen, irgendwie gar nicht dazu gehören würde. So war das also, wenn Menschen in Panik gerieten. Er hatte sich immer wieder gefragt, wenn in irgendwelchen Filmen panische Menschenmassen zu sehen waren, ob das realistisch war, oder ob einfach Hollywood es so haben wollte.

Die Löbinger! Wo war die Löbinger? Er hastete zur verlassenen Bahn zurück und schaute hinein: Da lag sie. Auf dem schmutzigen Strassenbahnboden. Verlassen, verkrümmt. Die Augen in ihrem blauen Gesicht schauten schreckgeweitet nach oben. Und nichts regte sich an ihr.