1

 

Es war nicht einfach gewesen, die Labors des Zytochemischen Instituts der Universität zu finden. Sie schaute die breite Treppe des alten Kollegiengebäudes hoch. Schon erstaunlich, dass in diesen Mauern Spitzenforschung betrieben wurde. Die hohen, düsteren Gänge mit den hölzernen Schaukästen an den Wänden waren ziemlich abstossend, um keinen Preis würde sie hier arbeiten wollen. Und dann dieser Geruch nach Reinigungsmitteln, der sie auf der Treppe in die dritte Etage begleitete. Sie rümpfte die Nase.

Oben roch es anders, undefinierbar, chemisch eben. So wie es damals gerochen hatte, als Kind, wenn ihr Vater sie in die Entwicklungsabteilung der Firma mitnahm. Die Steinhousy-Werke waren eines der grossen Basler Chemieunternehmen. Ihr Grossvater hatte sie gegründet, und nun leitete sie ihr Vater. Auch die Stille in den Fluren hier war wie damals. Produktive Ruhe nannte es ihr Vater. Das hatte sie als Kind noch nicht verstanden, erst später, während ihres Praktikums in der Firma. Wissenschaft war eine stille Angelegenheit, verbunden mit endlosem Hocken vor Geräten und Retorten. Deshalb hatte sie für sich einen anderen Weg gewählt.

Die klickenden Geräusche ihrer hochhackigen Schuhe hallten im Flur. Niemand hatte sie bis jetzt bemerkt. Das war gut.

Sie las die kleinen Schilder an den Türrahmen. Darauf standen die Namen der in den Labors arbeitenden Forscher. Den richtigen Namen hatte sie noch nicht gefunden. Einige Türen standen offen. In den Labors sassen junge Wissenschaftler, allein vor Messgeräten oder Computerbildschirmen. Forschung war nicht nur etwas Stilles, sondern auch etwas Einsames.

Unvermittelt öffnete sich vor ihr eine Tür. Schnell trat sie zwei Schritte zur Seite, wäre fast gestolpert. Ein junger Mann im weissen Labormantel rauschte an ihr vorbei. Einen Moment drehte er sich um und liess seine Augen flüchtig über ihre Gestalt wandern. Dann eilte er weiter. Unter anderen Umständen hätte sie sich über den bewundernden Blick gefreut. Es war schliesslich nicht selbstverständlich, mit über vierzig Jahren noch eine straffe, schlanke Figur zu haben. Nachdem man zwei Kinder geboren und grossgezogen hatte. Ein erstklassiges, bordeauxrotes Kostüm allein genügte da nicht. Frau musste schon mehr dafür tun.

Aber eben: Im Moment ging es nur um diesen einen Name. An einer der geschlossenen Türen stand er endlich: Dr. B. Löbinger, Forschungsgruppe Schweininger. "B." wie "Bernadette".

Es war soweit. Sie wollte bei der bevorstehenden Konfrontation ihr Temperament zügeln, wie kultivierte Frauen das eben taten. Sie straffte ihre Jacke und klemmte die schwarze Handtasche fest unter den Arm. Noch einmal tief atmen. Ohne anzuklopfen trat sie ein.

Dort sass sie. An einem Labortisch, vor sich die unvermeidliche Tasse Kräutertee. Sie war dabei, eine klare, gelbliche Flüssigkeit mit einer Pipette von einem grossen in mehrere kleine Erlenmeyerkolben umzufüllen. Jetzt aber schaute sie zu ihr.

"Susanne, du?"

Ja, da schaute sie, die Bernadette, die ihr den Mann wegnehmen wollte. In aller Ruhe schloss sie die Labortür hinter sich, ohne ihre Widersacherin aus den Augen zu lassen. Wie konnte Michael sich bloss in ein Weib vergucken, das ein armseliges Leben inmitten von übel riechenden Reagenzien fristete? Die ihre Zeit in diesem düsteren Raum verbrachte?

Eigenartig. Trotz der wilden Entschlossenheit, die sie hierher getrieben hatte, fühlte sie sich jetzt irgendwie unsicher. Nicht dass ihr Labors fremd wären, aber dies war Bernadettes Revier. Hier waren ihre Apparate, Glaswaren, Bestecke, Computer, Schränke. In einem Nebenraum fiepte leise ein Gerät.

Langsam legte Bernadette die Pipette neben den Kolben und schob ihre rundgläsrige Brille auf der Nase nach oben. Hatte sie anfangs unsicher, ja fast ängstlich gewirkt, wandelte sich ihr Blick allmählich. Nun schaute sie drein, als wollte sie die Temperatur im Labor auf Frostwerte sinken lassen. Aber der Kleinen mangelte es an Willenstärke. Mit diesem Blick machte sie ihr keinen Eindruck. Gleich würde sie ihr unmissverständlich klar machen, dass sie ihre Finger in Zukunft von Michael lassen sollte. Diese verätzten Finger. Schon der Gedanke, dass diese sich an ihrem Michael zu schaffen gemacht haben mussten, ihn angefasst hatten - überall - ekelhaft.

Sie sah, wie Bernadettes Blick langsam an ihrem Körper hinunter glitt. Was fiel dieser Laborratte ein, sie so abschätzig zu mustern? Sie, die keine Ahnung von guter Kleidung hatte. Okay, Bernadette sah ganz passabel aus. Die runde Brille gab ihr ein pfiffiges Aussehen, die halblang geschnittenen, eigenartig graublonden Haare standen ihr gut. Ihre blauen Augen strahlten förmlich. Auch ihre Figur war nicht schlecht, die Beine vielleicht ein wenig zu muskulös. Die Brüste waren etwas grösser als ihre ...

Lag es daran? War es das, was Michael wollte? Obwohl er ihr immer versichert hatte, dass Männern die Grösse der Oberweite ihrer Partnerin in einer Partnerschaft egal war. Das mochte ja sein, aber ausserhalb einer Partnerschaft ...

"Du hast es herausgefunden", sagte Bernadette.

"Er hat es mir gestern gesagt."

"Endlich kann er dazu stehen." Mit einem Lächeln nahm Bernadette die Pipette wieder in die Hand und wandte sich erneut den Glaskolben zu. Sie sog eine kleine Menge von der Lösung aus dem grossen Kolben ab und liess sie anschliessend in einen der kleinen hinein tropfen.

"Du irrst dich. Er ist noch nie zu seinen Freundinnen gestanden", sagte Susanne. Bernadette hielt inne und sah zu ihr auf.

"Er hatte schon früher eine Geliebte?"

"Du bist meine Freundin. Ich will dir die Enttäuschung ersparen." Tatsächlich war es jedoch das erste Mal, dass Michael etwas mit einer anderen Frau hatte, da war sie sich sicher. Aber eines war klar. Sie würde um Michael kämpfen. Ihr nahm niemand etwas weg, das ihr gehörte.

"Ich glaube Dir nicht", sagte Bernadette kurz, "Michael ist nicht dieser Typ."

"Genau das ist seine Masche."

Jetzt leerte diese Kuh doch schon wieder ihre blödsinnige Pipette in den kleinen Glaskolben. Dann endlich legte sie das Ding weg, verschloss den grossen Kolben mit einem Glasstopfen und erhob sich. Sie schüttelte die Haare aus dem Gesicht und stemmte die kleinen Fäuste in die Hüften. Niedlich, wie sie sich vor ihr aufbaute.

"Glaubst du, ich durchschaue deine Absicht nicht? Seit bald einem halben Jahr sind wir zusammen, und ich kenne ihn gut genug. Ich weiss, dass er mich wirklich liebt. Du bringst uns nicht auseinander. Deine Zeit mit ihm ist abgelaufen."

Ein halbes Jahr. So lange dauerte das also schon mit den beiden, und sie hatte nichts bemerkt. "Ich werden ihn nicht kampflos aufgeben", antwortete sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch.

"Gib Michael frei. Du hast ihn lange genug besessen."

Es wurde immer schwieriger sich zu beherrschen, den Vorsatz, nicht zuzuschlagen einzuhalten. Wenn dieses Weib so weiter machte, dann ...

Da ertönte aus dem Nebenzimmer ein schrilles Piepen. Bernadette schaute zwischen ihr und der Tür hin und her. Dann eilte sie ins Nebenzimmer.

Susanne atmete tief aus. Gut, eine Gelegenheit zur Entspannung. Sie hatte sich keine Illusionen gemacht, schliesslich kannte sie Bernadette. Niemals würde sie ihre Beziehung zu Michael einfach so beenden. Nur weil seine Frau etwas dagegen hatte - da waren sie einander ganz ähnlich. Noch länger mit ihr reden brachte nichts. Aber jetzt einfach gehen, das Labor verlassen und quasi die Niederlage eingestehen, das kam nicht in Frage. Sie hatte sich zwar fest vorgenommen, nicht handgreiflich zu werden. Aber irgendetwas wollte sie Bernadette antun. Vielleicht etwas Flüssigkeit aus diesem blödsinnigen Erlenmeyerkolben in den Kräutertee giessen? Das machte sicher Bauchweh, oder es wurde ihr übel ...

Gerade als sie den Kolben wieder mit dem Glasstopfen verschliessen und hinstellen wollte, kam Bernadette zurück. Schnell verbarg sie den Glasbehälter in der hohlen Hand und führte ihn langsam hinter den Rücken.

"Du willst also Krieg", sagte sie so eisig sie konnte.

"Du hast schon verloren", antwortete Bernadette.

"Du wirst dich noch wundern." Sie bewegte sich langsam rückwärts auf den Ausgang zu, den Blick fest auf Bernadette gerichtet. Dann wandte sie sich abrupt um, ihre braunen Locken flogen. Sie verliess das Labor und schloss die Tür hinter sich. Sie wollte nur noch raus aus diesem Mausoleum. Aber ihre Schritte hallten so schmerzlich laut im Flur, dass sie sich zu einer langsameren Gangart zwang. Endlich konnte sie den Stopfen fest auf den gestohlenen Kolben stecken. Dann verstaute sie ihn in der Handtasche.

Schön blöd! Nur wegen dieses lächerlichen Streiches, den sie Bernadette gespielt hatte, hatte sie das Labor so schnell verlassen. Weil sie sich nicht hatte erwischen lassen wollen. Deshalb sollte sie diese Person so einfach davon kommen lassen?

Gut, die Chemikalie mochte ihr Bauchweh bescheren.

Gut, sie hatte ihre Fassung bewahrt.

Gut, sie hatte die Situation mit Stil gemeistert, wie Menschen ihrer gesellschaftlichen Stellung das zu tun pflegen. Aber dennoch...

Es fühlte sich nicht richtig an.

Sie blieb stehen und drehte sich langsam um. Dann machte sie sich auf den Weg zurück zu Bernadette. Erst zögernd, dann immer schneller. Schliesslich stürmte sie ins Labor. Als sie die Tür aufstiess trank Bernadette gerade den Tee aus und hätte die Tasse vor Schreck fast fallen gelassen. Sie fegte Glas- und Kunststoffbehälter von den Regalen und Gestellen, bis der Boden mit Splittern, Pulvern und Flüssigkeiten bedeckt war. Da und dort schäumten und dampften Reagenzien. Dieses Chaos hatte auch den Vorteil, dass der Verlust des Glaskolbens unbemerkt bleiben würde. Am Ende lief sie an der wie versteinert dastehenden Bernadette vorbei, stürmte aus der Tür, floh im Stakkato ihrer Absätze den Flur entlang, die Treppe hinunter und aus dem Gebäude hinaus. Donnernd fiel die schwere Eingangstür hinter ihr ins Schloss.

Ja, jetzt fühlte es sich richtig an.