Dienstag

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"... während die Fahrgäste der Tram Nr. 8 weiterhin in Quarantäne verbleiben müssen. Das kantonale Gesundheitsamt konnte noch keine Angaben zur Todesursache der verstorbenen Biologin machen. Der Verdacht auf eine akute Viruserkrankung könne aber vorerst nicht ausgeräumt werden. Sollte er sich bestätigen, müsste eine Ausweitung der Quarantäne auf weitere Personen im Umfeld der Verstorbenen ins Auge gefasst werden. Ausserdem erneuerte die Gesundheitsdirektion den Aufruf an diejenige Fahrgäste der Todestram, welche sich nach dem Ereignis vom Ort entfernt hatten, Kontakt zu Mitmenschen so weit wie möglich zu unterlassen und sich umgehend in die im Kantonsspital eingerichtete Quarantänestation zu begeben.

Diese auf den ersten Blick zielgerichteten Massnahmen der Behörden können allerdings nicht über ihre Hilflosigkeit im Umgang mit der so plötzlich in unserer Stadt aufgetauchten tödlichen Bedrohung hinwegtäuschen. Anstatt die im Bereich der Virusforschung äusserst erfahrenen Forscher der verschiedenen Basler Pharmamultis mit den Abklärungen zu beauftragen, wird im Kantonalen Labor mit unzulänglichen Mitteln nach den lebensbedrohenden Keimen gesucht."

Georg Tanner legte die neueste Ausgabe des BLATTES mit dem wie gewohnt reisserischen Leitartikel von Jenny Kliebenschädel beiseite. Der Chermittler der Sektion Leben der Kriminalpolizei beider Basel - gemeinhin als Mord und Totschlag bezeichnet - war froh, dass er am Vortrag, nachdem er zum Schauplatz des rätselhaften Todes der Biologin gerufen worden war, die Verantwortung in die Hände der Medizin hatte legen können. Ausserdem war er froh, dass die Mediziner bisher nicht auf die Idee gekommen waren, auch die zur Haltestelle gerufenen Polizisten unter Quarantäne zu stellen, weil sie sich im Tram Nr. 8 angesteckt haben könnten. Tanner war auch keinesfalls gewillt, sie auf ihr Versäumnis hinzuweisen, wenngleich ihm selbst ein paar Tag Ruhe im Spital nicht ungelegen gekommen wären. Seine Sektion hatte in den letzten Tagen und Wochen alle Hände voll mit den üblichen aussergewöhnlichen Todesfällen, in welchen routinemässig kriminalpolizeiliche Abklärungen zu erfolgen hatten, zu tun gehabt. Ausserdem war ihm vom Chef wieder einmal ein Absolvent des Kripolehrganges zur Unterstützung - wie der Chef das nannte - zugeteilt worden. Besser gesagt, eine Absolventin. Anette Beckmann war einssechzig gross, breitschultrig, Brillenträgerin und sehr eifrig.

Als sein Telefon klingelte, hoben sich die buschigen Augebbrauen des stämmigen Mittvierzigers ärgerlich. Am Apparat war Dr. Bernstein, der Kriminalpathologe.

"Ich wette, du hast dich schon gefreut, dass du mit der Biologin weiter nichts zu tun zu haben würdest", quäkte es hämisch an Tanners Ohr.

"Was offenbar ein Irrtum war ..." seufzte der Ermittler.

"Komm doch mal vorbei, in zehn Minuten oder so."

"Wenn der Pathologe ruft, lässt der Polizist natürlich sofort alles fallen und rennt los. Ich hole noch die Neue, dann komme ich."

"Die Neue?"

"Wirst schon sehen."

Dr. Bernstein empfing die beiden im offenen, grünen Oparationsoverall, den Mundschutz nachlässig auf die Stirn hochgeschoben, die ungeschützten Hände auf die von diversen Körperflüssigkeiten besudelte, chromglänzende Sezierwanne gestützt, in welcher die tote Biologin von einem weissen Laken bedeckt lag. Tanner blieb erstaunt in ein paar Schritten Entfernung von der Toten stehen.

"Eine Tröpfcheninfektion ist von der Toten zwar nicht mehr zu erwarten, aber lässt du es nicht doch etwas sehr unvorsichtig angehen, bei einem Virusopfer?"

"Es hat nie Ansteckungsgefahr bestanden", beruhigte ihn der Mediziner. „Sie ist keinem Virus zum Opfer gefallen, sondern wurde vergiftet."

"Vergiftet", staunte Tanner. Seine Assistentin schaute neugierig durch ihre dicken Brillengläser.

"Eindeutige Symptome", nickte der Arzt.

"Offenbar ein sehr schnell wirkendes Gift, nach den Berichten über die Vorfälle in der Tram zu schliessen", meinte Tanner.

"Richtig."

"Welches Gift? "

"Curare."

"Curare?"

"Curare."

"Dann war der Täter eine Frau", meldete sich die junge Kriminalpolizistin zum ersten Mal zu Wort. Verwundert schauten die beiden Männer zu ihr und fragten wie aus einem Mund.

"Wieso?"

"Frauen morden bevorzugt mit Gift", meinte sie mit Überzeugung.

Tanner wandte sich ihr zu und fragte hämisch, ob man das heutzutage in Kriminalistiklehrgängen lerne.

"Nicht unbedingt ..." gab die Beckmann verunsichert zu. „Aber ich lese halt auch sonst viel über Kriminalfälle ..."

"Sie meinen wohl Kriminalliteratur. Jerry Cotton, Philip Maloney und so weiter? In derartigen Werken mag es gang und gäbe sein, dass Menschen vergiftet werden - und dann eben bevorzugt von Frauen. Aber Sie sollten eigentlich wissen, dass Giftmorde in Tat und Wahrheit äusserst selten sind. Und dass in diesen raren Fällen dann bevorzugt eine Frau die Täterin sein soll, ist statistisch in keiner Weise belegt. Na, lassen wir das jetzt." Zum Arzt gewandt fragte er:

"Wie wurde ihr das Gift verabreicht?"

"Keine Ahnung", antwortete Dr. Bernstein verlegen.

"Wie bitte?"

"Curare wirkt nur, wenn es direkt in den Blutkreislauf gelangt. Klassischer Weise als Pfeilgift. Es wirkt nicht, wenn es eingeatmet oder eingenommen wird. Aber es gibt keine Einstichstelle, also: keine Ahnung."

"Du machst Spass."

"Siehst du mich lächeln?"

"Nein."

"Eben. Aber eines ist merkwürdig." Bernstein runzelte die Stirn. "Ich konnte Reste des Giftes aus dem Blut des Opfers isolieren. Und es scheint irgendwie anders zu sein. Ich lasse gerade eine Vollanalyse laufen, dann werde ich vielleicht mehr wissen."

"Und nun?"

"Hebe ich die Quarantäne auf und du machst dich ans Werk."