Montag

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Bernadette Löbinger wartete inmitten von einem Dutzend anderer Menschen an der Haltestelle auf die Tram. Wieder einmal hatte sie Verspätung. Daran war man sich allerdings mittlerweile gewöhnt, denn die teuren, neuen, mit viel Medienrummel eingeführten Trams hatten technische Probleme. Nicht selten blieben sie ohne ersichtlichen Grund während der Stosszeiten mitten auf verkehrsreichen Kreuzungen stehen und verursachten Stauungen biblischen Ausmasses.

Der Streit mit Saskia Mendels am vergangenen Freitag im Labor hatte ihr mehr zugesetzt als sie sich selbst eingestehen wollte. Immerhin waren sie Freundinnen - schon lange. Auch als sie sich in das wider Erwarten doch eintreffende, wie immer übervolle Tram drängte, waren ihre Gedanken bei ihrem Beziehungsproblem. Sie hatte gewusst, dass der Moment der Konfrontation kommen würde. Ihrer Freundin gegenüber hatte sie sich stark und wohl auch etwas überheblich gegeben. In Wirklichkeit aber hatten sie deren Äusserungen in ihrer Liebe zu Michael doch verunsichert. Das seltsame krampfartige Rumoren in ihren Eingeweiden, welches sie seit Sonntag Abend wiederholt bemerkt hatte, schrieb sie diesem Umstand zu.

Irgendwie war auch die vergangene Nacht, die Michael bei ihr verbracht hatte, verkrampft und ungemütlich gewesen. Beim Frühstück hatten sie kaum ein paar Worte gewechselt, bei waren irgendwie befangen gewesen. Bernadette liess sich von weiteren zusteigenden Fahrgästen in eine Ecke des Trams drängen. Da verspürte sie plötzlich einen schmerzlichen Stich im Bereich des linken Lungeflügels. Am Abend hatte sie Michael ganz offen gefragt, ob sie eigentlich sein erster Seitensprung sei, worauf er meinte, sie sei ganz gewiss kein Seitensprung, sondern seine grosse Liebe. Der tiefe Blick, den er ihr dabei schenkte, vermochte ihre Zweifel zwar weitgehend zu zerstreuen, ein Stachel war dennoch geblieben. Sie ärgerte sich, dass diese durchsichtige Bemerkung Saskias sie derart verunsichert hatte.

Als sie eine jähe Atemnot verspürte, atmete sie tief und gierig ein. Die Atemnot wunderte sie nicht, in dieser vollgestopften Strassenbahn, worin einem die Raucher ihren stinkenden Zigarettenatem ins Gesicht pusteten. Es wurde Zeit, dass das Rauchen in der Strassenbahn endlich ganz verboten wurde. Doch die Atemnot wollte nicht vergehen. Sie schnappte verwundert nach Luft, was einen kleinen Krampf in der Atemmuskulatur zur Folge hatte. Erst eine sehr tiefer Atemzug vermochte ihn zu lösen. Dabei entfuhr ihr ein lauter Seufzer. Die umstehenden Fahrgäste musterten sie neugierig. Die Biologin war zwar darüber erleichtert, dass sie nun wieder frei atmen konnte, fragte sich aber, ob sie wohl einmal zum Arzt gehen sollte. Umso mehr, als plötzlich das krampfartige Rumoren in ihren Eingeweiden wieder auftrat und sich allmählich verstärkte. Sie fragte sich, ob das Anzeichen für einen Nervenzusammenbruch sein könnten, hervorgerufen durch ihren Beziehungsstress. Als sich ihre Bauchmuskulatur schlagartig heftig verkrampfte entfuhr ihr ein kleiner Schrei und ihr Körper zog sich in der Mitte zusammen. Die Umstehenden schauten erneut verwundert und nun vermehrt misstrauisch zu ihr hin. Einige versuchten, sich von ihr zu entfernen, was aber in der Enge der Tram nur zu unmutigen Reaktionen der angerempelten, weiter entfernt stehenden Fahrgäste führte.

Erneut wurde Bernadette von Atemnot und Krämpfen in der Atemmuskulatur geplagt. Ihre Augen weiteten sich schreckerfüllt, sie begann keuchend nach Luft zu ringen. Gutturale Laute quetschten sich zwischen ihre zusammen gebissenen Zähnen hervor. Langsam sank sie verkrümmt zu Boden. Nun begannen die in ihrer Nähe stehenden Fahrgäste entschlossen von ihr wegzudrängen, was zu einem stärker werdenden Aufruhr im Fahrgastraum führte. Ärgerliche Rufe und erste Panikschreie vermischten sich. Jemand stürzte und fand sich sofort von trampelnden Füssen traktiert.

Endlich bemerkte der Fahrer den Aufruhr und begann, nach einer Stelle Ausschau zu halten, an der er anhalten konnte. In der Zwischenzeit krümmte sich die im Gesicht bereits bläulich angelaufene Bernadette Löbinger in Krämpfen am Boden des Trams. Allmählich wurden ihre Bewegungen schwächer. Ihre panikgeweiteten Augen schauten glasig. Die Strassenbahn stoppte schliesslich an der nächsten Haltestelle. Kaum waren die Türen geöffnet, stürzten die schreienden Fahrgäste hinaus. Einige entfernten sich so schnell wie möglich und verschwanden hinter Hausecken. Die meisten blieben jedoch bald stehen, weil sie den Grund für diese grosse Aufregung erfahren wollten. Zurück blieben nur die immer schwächer werdende Biologin und ein Mann mittleren Alters, der ihr zu helfen versuchte. Schliesslich lag Bernadette reglos, in verkrümmter Haltung auf dem schmutzigen Tramboden und der Mann, der sich später als Arzt entpuppte, rief mit seinem Mobiltelefon die Ambulanz herbei. Er wusste allerdings bereits, dass jede Hilfe zu spät kommen würde.