Freitag

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Das biochemische Institut der Universität Basel war in einem der alten Kollegiengebäude untergebracht. Breite Treppen verbanden die Stockwerke. Hohe, düstere Gänge, gesäumt von alten hölzernen Schaukästen führten zu den Büros, Labors und Seminarräumen. Die für Hochschulen während der Semesterferien typische produktive Stille erfüllte das Gebäude. Eine aggressive Geruchsmischung von Raumpflegeprodukten und komplexen Chemikalien belästigte die Nase der Besucherin. Einige der Türen in der zweiten Etage standen offen, die meisten waren jedoch geschlossen. Das leise Fiepen von automatischen Messgeräten wies darauf hin, dass in diesen Gemäuern Wissenschaft stattfand.

Saskia Mendels las die kleinen Schilder an den Türen, welche die Namen der in den Räumen dahinter tätigen Forscher trugen. Der gesuchte Name war noch nicht aufgetaucht. In den Räumen mit geöffneten Türen waren einsame Doktoranden zu sehen, die hochkonzentriert an futuristisch anmutenden Geräten sassen oder in grosse Computerbildschirme starrten. Das Klicken von Saskias eleganten, hochhackigen Schuhen hallte im Flur, keiner der Anwesenden nahm davon Notiz.

Sie erschrak, als sich die Tür vor ihr unvermittelt öffnete und plötzlich ein mit einem weissen Labormantel bekleideter junger Mann mit überraschend attraktivem Äusseren vor ihr stand. Die leere Kaffeetasse in seiner Hand verriet, dass er auf dem Weg war, sich mit frischem Koffein zu versorgen. Einen flüchtigen Moment drehte der Wissenschaftler sich nach Saskia um und liess einen bewundernden Blick über ihre schlanke Gestalt wandern. Doch er wandte sich ab, ohne sie anzusprechen und eilte davon. Unwillkürlich fuhren Saskias Finger durch ihre langen, brünetten Locken. Normalerweise hätte sie sich insgeheim über den Blick des jungen Mannes gefreut. Es war schliesslich nicht selbstverständlich, mit über vierzig Jahren, nachdem man zwei Kinder geboren und grossgezogen hatte, noch eine straffe, schlanke Figur zu haben. Ein elegantes, bordeauxrotes Kostüm allein genügte da nicht. Frau musste schon mehr dafür tun.

Im Moment jedoch interessierte sie sich nur für diesen einen Namen, den sie endlich an einer der geschlossenen Türen fand. Dr. B. Löbinger, Biologin, Forschungsgruppe Bollen stand zu lesen. Das B. stand für Bernadette. Dr. Löbinger war eine Frau und das war das Problem. Saskia hoffte, dass sie die bevorstehende Konfrontation überstehen würde ohne in Tränen auszubrechen oder wild um sich zu schlagen. Sie wollte das Ganze wie eine kultivierte Frau hinter sich bringen.

Saskia straffte ihre Jacke, klemmte ihre elegante, dunkelblaue Handtasche fest unter den Arm und klopfte entschlossen an die Tür. Ohne auf eine Antwort zu warten, trat sie ein. Auf dem langgestreckten Labortisch vor der Biologin stand auf einer kleinen freien Fläche inmitten von komplizierten Analysegeräten ein grösserer und mehrer kleine Erlenmeyerkolben und daneben dampfte eine grosse Tasse Kräutertee. Der grosse Kolben enthielt eine klare, gelbliche Flüssigkeit. Die Forscherin war gerade im Begriff mit einer grazilen Pipette etwas von dieser Flüssigkeit abzusaugen. Sie schaute überrascht zur Tür. Dann legte sie sorgfältig die Pipette neben den Kolben, schob die auf ihre Nasenspitze gerutschte rundglasige Brille nach oben und musterte die Eintretende verwundert.

"Saskia, du?"

"Ja", antwortete diese einfach.

Einige Sekunden sahen sich die beiden Frauen schweigend an.

"Du hast es herausgefunden", stellte Dr. Löbinger schliesslich fest.

"Er hat es mir gestern gesagt."

"Er kann also endlich dazu stehen." Mit einem etwas überheblichen Lächeln nahm die Forscherin die Pipette wieder in die Hand und wandte sich erneut den Glaskolben vor sich zu. Sie sog eine kleine Menge von der Lösung aus dem grossen Kolben ab und liess sie anschliessend vorsichtig in einen der kleinen hinein tropfen. Anschliessend verschloss sie diesen mit einem Glasstopfen.

"Er ist noch nie zu seinen kleinen Freundinnen gestanden", klärte Saskia ihre Nebenbuhlerin auf. Bernadette erstarrte einen Augenblick in ihren Bewegungen, dann sah sie auf und musterte Saskia argwöhnisch.

"Er hatte schon früher eine Geliebte?"

"Du bist meine Freundin. Ich will dir die Enttäuschung ersparen." Tatsächlich war es jedoch das erste Mal, dass ihr Mann etwas mit einer anderen Frau hatte, und Saskia war fest entschlossen, einen Keil zwischen die beiden zu treiben.

"Ich glaube Dir nicht", sagte Bernadette scharf, "Michael ist nicht dieser Typ."

"Genau das ist seine Masche."

Die Biologin kehrte mit betontem Desinteresse zu ihrer Umfüllaktion zurück und leerte wiederholt die Pipette in den kleinen Erlenmeyerkolben, legte sie dann beiseite, verschloss den grossen Kolben wiederum sorgfältig und erhob sich. Sie warf ihre blonden, halblangen Haare trotzig in den Nacken und stemmte die Fäuste in die Hüften. Ihre braunen Augen funkelten.

"Glaubst du, ich durchschaue deine Absicht nicht? Seit bald einem halben Jahr sind wir zusammen und ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass er mich wirklich liebt. Du bringst uns nicht mehr auseinander. Deine Zeit mit ihm ist abgelaufen."

Unwillkürlich stellte sich Saskia etwas breitbeiniger hin und baute vom Solarplexus ausgehend ihre Körperspannung auf. So lange dauerte das also schon mit den beiden, und sie hatte nichts davon gemerkt. Als Michael ihr sagte, er würde sie verlassen, war sie aus allen Wolken gefallen.

"Ich werden ihn nicht kampflos aufgeben", zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. "Du wirst mein Leben nicht zerstören."

Auch die Biologin straffte ihren sportlichen Körper und begann lauernd um ihre Besucherin herum zu schleichen.

"Es gibt viele Männer, die auf dich scharf sind. Nimm doch einen von denen und lass mir meinen Michael. Du hast ihn lange genug besessen. Jetzt ist Zeit für andere - jüngere."

Gerade wollte Saskia sich blitzschnell zu Bernadette hinwenden, als aus dem Nebenzimmer, dessen offen stehende Tür sie bisher gar nicht bemerkt hatte, ein schrilles Piepen erklang.

Widerstrebend wandte sich die Forscherin ab und eilte ins Nebenzimmer.

Saskia entspannte sich etwas. Sie hatte sich keine Illusionen gemacht, denn sie kannte ihre Freundin gut genug, um zu wissen, dass sie niemals ohne weiteres auf Michael verzichten würden. Dennoch war sie wütend und verletzt. Irgendetwas wollte sie Bernadette antun. Vielleicht alle herum stehenden Glaswaren vom Tisch fegen? Doch ein seltsamer Respekt vor den wahrscheinlich hochkomplizierten Chemikalien hindert sie daran. Statt dessen nahm sie den kleinen Glaskolben in die Hand, in den die Biologin Flüssigkeit aus dem grossen Kolben hineingefüllt hatte und goss einen Teil davon in den daneben stehenden grünbraunen Kräutertee. Gerade als sie den wieder verschlossenen Kolben zurückstellen wollte, kam ihre Feindin zurück. Saskia verbarg den Glasbehälter in der hohlen Hand und führte diese langsam hinter ihren Rücken.

"Du willst also Krieg", sagte sie.

"Es gibt keinen Krieg, wenn einer der Gegner schon von vornherein verloren hat", entgegnete Bernadette.

"Du wirst dich noch wundern", meinte Saskia drohend und begann langsam rückwärts zum Ausgang zu gehen, den Blick stechend auf ihre Gegnerin gerichtet. Dann wandte sie sich abrupt um, so dass ihre Locken flogen. Dabei achtet sie darauf, dass die Biologin den Kolben nicht zu sehen bekam. Sie ging schnell zur Tür hinaus und schloss sie mit einem Knall. Das Klicken ihrer Schritte entfernte sich rasch.

Eine Weile blieb Bernadette Löbinger stehen und starrte die geschlossene Türe an. Dann setzte sie sich, schob ihre Brille auf die Nasenwurzel hoch und griff zur Teetasse. Nachdenklich trank sie in kleinen Schlucken. Die halbvolle Tasse stellte sie anschliessend ab und wollte sich wieder ihrer Arbeit zuwenden. Da stutzte sie. Sie hatte doch bereits einen der kleinen Kolben mit der Probenflüssigkeit gefüllt. Die dafür verwendete Pipette lag ordentlich neben dem grossen Kolben. Sie fragte sich, ob sie vorhin so in Gedanken gewesen war, dass sie den Kolben unbewusst irgendwo beiseite gestellt haben könnte. Doch er war nirgends zu finden.

"Hat Saskia den Erlenmeyer mitgehen lassen?"

Das schien ihr die einzige Lösung. Vielleicht wollte ihr Saskia so einen hilflosen Streich spielen. Das war natürlich lächerlich. Immerhin musste sie sich eingestehen, dass ihre Freundin diese Begegnung mit Würde und Stil gemeistert hatte. Einen Moment lang hatte sie mit eienr physischen Konfrontation gerechnet.

Dr. Löbinger wusste nicht genau, worum es sich bei der Substanz handelte, die ihr Dr. Schweinsteiger für die Durchführung von ein paar Routineanalysen übergeben hatte. Eigentlich eine Herabsetzung ihrer Stellung, sie war schliesslich keine einfache Laborassistentin, aber der Schweinsteiger, dieser eingebildete Fatzke, wollte ihr wohl wieder einmal eins auswischen, weil er auf ihre Erfolge auf wissenschaftlichem Gebiet neidisch war. Es war nichts als ein kleiner Machtkampf, wie schon öfter. Der Stellvertretende Chef musste sich bei niedriger eingestuften Wissenschaftlern halt gelegentlich profilieren. Weil ihm das mit Leistung nicht gelang, griff er öfters zu anderen Mitteln. Mobbing würde man das heute wohl nennen. .Aber anderseits handelte es sich bei der Testsubstanz wahrscheinlich um ein in Entwicklung stehendes Produkt, das sicher nicht in falsche Hände geraten sollte. Natürlich hatte es Schweinsteiger nicht einmal für nötig gehalten, sie über die Testsubstanz wenigstens andeutungsweise ins Bild zu setzen - auch wieder so ein Kick ans Schienbein. Aber trotz allem würde sie den Verlust ihrem Vorgesetzten melden müssen.

"Dr. Schweinsteiger hat natürlich wieder einmal einen wichtigen Termin heute Nachmittag. Naja, ich melde es ihm nachher mit einem internen E-Mail. So wichtig wird das wohl auch wieder nicht sein." Sie zuckte mit den Schultern und setze ihre Arbeit fort.

Auf dem Flur verstaute Saskia den gestohlenen Kolben vorsichtig in ihrer Handtasche und verlangsamte dabei unwillkürlich ihre anfangs fast fluchtartig schnellen Schritte. Sie hatte zwar die Fassung bewahrt, aber einen Kurzen Augenblick lang war ein Kampf in der Luft gelegen. Sie hatte die Situation mit Stil gemeistert, so wie kultivierte Menschen das zu tun pflegen. Aber dennoch ... es fühlte sich nicht richtig an. Sie hielt ganz an und drehte sich nachdenklich um. Dann begann sie, den Weg zurück zu Bernadettes Labor zu gehen. Anfangs noch zögernd, dann immer entschlossener. Schliesslich stürmte sie ins Labor und begann wie eine Furie Glas- und Kunststoffbehälter von den Regalen und Gestellen zu fegen, bis der Boden mit Splittern, Pulvern und Flüssigkeiten bedeckt war. Dann lief sie an der vom Überfall total überraschten Bernadette vorbei, stürmte aus der Tür und floh im Stakkato ihrer Absätze den Flur entlang und aus dem Gebäude hinaus. Ja, jetzt fühlte es sich richtig an !