Mammuthus

  

Wie wenn der Berg sie geboren und gleich darauf von sich gestossen hätte, lagen die weissen Felsblöcke am Fuss des Hanges. Die Häupter dieser Töchter des Berges lugten ein wenig über die niedrigen Bäume und Büsche hinaus, als spähten sie vorsichtig auf die sumpfige Talebene hinab. Dort erstreckten sich seichte, von schmalen Wasserläufen verbundene Moore zwischen feuchten Grasflächen. Im dunklen Wasser spiegelte sich der blaue Himmel. Eine Schar grauer Gänse weidete im Gras. In den Büschen surrten Fliegen und zwitscherten Vögel.

Spurenfinder sass mit verschränkten Beinen auf einem der Felsen, seinen Speer neben sich in das weiche Moos gelegt, das zusammen mit einigen Sträuchern, den Haaren der Bergtöchter gleich, auf dem rauen Stein wuchs. Ein kräftiger, lauer Wind wehte durch seine langen, verfilzten Haare, zauste das Fell seiner Kleidung, raschelte in den Blättern der Birken und Weiden und trug den modrigen Geruch des Sumpfes zu ihm hinauf. Noch diesen Mond würde der Wind kälter werden und die kurze warme Jahreszeit zu Ende gehen. Er musste sich einen Fleischvorrat für die Schneezeit anlegen. Und er musste Holz sammeln und seine Kleider ausbessern. Denn Kälte tötete schneller als Hunger.

Er senkte seinen Blick zu den riesigen, bleichen, von Kräutern umwucherten Knochen und abgebrochenen Stosszähnen, die am Fuss seines Felsens verstreut lagen. Mammuts waren hier gestorben. Vielleicht war dies eine der Stellen, von denen die Alten erzählten hatten. Kamen die Tiere hierher, wenn es Zeit war, zu ihrem grossen Geist zurückzukehren?

Vor zwei Schneezeiten hatte er diesen Ort entdeckt und sich zum Bleiben entschieden. In den Felsen oben fand er eine unter Tannen verborgene Nische, die vor Regen und Wind schützte. Zu klein für einen Clan, gross genug für ihn. Dort lebte er, von dort aus ging er auf die Jagd, stellte seine Fallen. Ganz allein hatte er so die Schneezeiten überlebt.

Auf dem Felsen sass er, wenn die Einsamkeit übermächtig wurde. Dann dachte er an früher, als er noch ein Mammut-Mensch war und zum Mammut-Clan gehörte. Alle Tiere und Pflanzen hatten natürlich Geister, auch der Fels auf dem er sass, der Mond, der Wind. Aber es war der Geist der Mammuts mit dem seine Leute tief verbunden waren. Er schützte sie gegen Feinde, half auf der Jagd, führte durch das Leben, half Wahrheiten zu finden. Nie würden sie ein Mammut töten, mochte der Hunger noch so gross sein. Denn sonst drohte die Strafe des Mammutgeistes.

Und dann dachte er an jenen Tag. An den Tag, als der Clan ihn verstiess. Ein Stich fuhr durch seine Brust. Schnell verdrängte er die Erinnerung. Seit diesem Tag war er allein. Nur hier an dieser Stelle fand er ein wenig Trost, weil hier der Mammut-Geist nah war. Aber er war stumm und sprach nicht zu ihm.

Lange war es her, seit er das letzte Mal Menschen gesehen hatte. Er atmete tief ein und liess die Luft prüfend durch die Nase gleiten. Seit zwei Tagen nahm er Rauchgeruch wahr. Jetzt waren Menschen in der Gegend. Er wollte ihnen jedoch nicht begegnen - Ausgestossene waren nirgends willkommen.

Er runzelte die Stirn, denn da war noch ein anderer Geruch. Nochmals prüfte er die Luft, dann überkam ihn eine grosse Unruhe. Er reckte den Hals, erhob sich und spähte auf die Talebene hinunter. Und schon bald tauchte hinter einem der Felsen ein mächtiges, dunkelgraues Tier auf.

Ein Mammut.

Er liess seinen Blick über die Ebene gleiten; die Herde konnte nicht weit sein. Gemächlich kam das grosse Tier näher, liess seinen Rüssel durch das Gestrüpp gleiten, riss da und dort ein wenig Laub ab und frass. Es war ein riesiges, altes Männchen, vom harten Leben gezeichnet. Es hatte einen der mächtigen Stosszähne verloren. Vielleicht beim Kampf mit einem Rivalen?

Das Mammut war nur noch einen Steinwurf entfernt, und noch immer sah er keine Herde. War dieser Mammutbulle ein Einzelgänger? Vertrieben von einem jüngeren Männchen? Verstossen wie er selbst? Kam er hierher um zu sterben?

Aber ... Einzelgänger waren gefährlich. Spurenfinder kniete nieder, duckte sich und beobachtete regungslos. Mit einem Mal hielt das Tier inne und schaute ihn aus seinen kleinen Augen direkt an. Drohend hob es den Rüssel.

Er erschrak, duckte sich noch tiefer ins Moos und fasste seinen Speer fest in beide Hände. Mit einem Mal legte sich der Wind, die Vögel verstummten. Es war, wie wenn die Natur in Erwartung eines Kampfes den Atem anhielt.

Doch es kam kein Angriff. Das Mammut stand da und sah ihn an. Je länger der Blick dauerte, desto mehr spürte er, dass dieser alte Bulle keine Gefahr für ihn bedeutete. Er fühlte im Gegenteil wieder ein wenig von der früheren Verbundenheit mit den Mammuts, fühlte den Geist, mit dem sein Schicksal einst verbunden gewesen war. Und er spürte, dass ihm von diesem riesigen Tier Kraft zuströmte.

Die Anspannung fiel von ihm ab. Langsam stand er auf. Und gleichzeitig liess das Mammut den Rüssel sinken. Es war, wie wenn alte Freunde einander wieder erkannt hätten. Schliesslich drehte sich der alte Bulle gemächlich weg und setzte seinen Gang zwischen Felsen und Bäumen fort.