Mord-Intro 1

 

Wie viele üble Mordgeschichten begann auch diese an einem Tag, der wie dafür geschaffen schien, eine üble Geschichte beginnen zu lassen. Es war anfangs November, es war kalt und es nieselte - und zwar schon seit über einer Woche. Alles war vollständig durchnässt. Die Bäume trieften, die Strassen waren voller Pfützen, auf den Wiesen der Pärke und auf den Äckern staute sich das Wasser. Menschen und Tiere hatten sich längst in ihren Behausungen verkrochen. Es herrschte ein blass-schleimiges Zwielicht; kaum, dass es einmal richtig Tag wurde.

Sie kennen das, lieber Leser. Solches Wetter lässt keine Freude zu. Je länger die feuchtkalte Düsternis andauert, desto tiefer sinkt die Stimmung. Würde man im Mississippidelta leben, nähme man die National-Gitarre aus ihrem verschrammten Koffer, würde sie bedächtig stimmen, dem kleinen Finger der linken Hand den Bottleneck aufsetzen und einen Blues-Klassiker schreiben („I woka this monin', rain was outside..."). Leider existieren bereits schon wenigstens fünfunddreissig ähnliche Klassiker, denn solche Wetterperioden kommen immer wieder vor. In Ländern, in denen die traditionelle Bluesmusik nicht zur gültigen Kultur zählt, bleibt einem Menschen oft kaum etwas anderes übrig, als sich vor dem Fernseher zu verbarrikadieren. Einige schlurfen durch triefende, düstere Gassen, den Kopf in den Schutz des Schultergürtels zurückgezogen, die Hände in Manteltaschen vergraben. Sie knurren die seltenen Passanten an („'rrrüezi!") und lassen ihre Mundwinkel hängen.

Unwillkürlich öffnet sich der Blick in das eigene Innere. Frühere und jetzige Frustrationen, Niederlagen und Enttäuschungen kommen zu Bewusstsein. Erinnerungen an Verluste - seien es Menschen oder Chancen - werden wieder wach. Der Blick in die Zukunft verschwimmt; kaum dass Neues entstehen können. Die Vergangenheit gewinnt die Oberhand und zwingt den Menschen mental in die Knie.

Vielleicht war es ja reiner Zufall. Aber vielleicht war gerade dieses miserable, seit Tagen andauernde Nieselwetter Schuld am Beginn unserer üblen Geschichte. Was wissen wir denn schon über die Interaktion zwischen Wetter und Verbrechen? Zwischen Luftdruck und Erdrosselung? Zwischen Niederschlag und Totschlag, zwischen Cumuli und Brandstiftung, zwischen - was auch immer! Sicher gibt es Hunderte von wissenschaftlichen Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen sozialem Milieu und Neigung zu Verbrecherkarrieren, aber garantiert keine einzige über den Einfluss der meteorologischen Situation auf das menschliche Gewaltpotenzial, beziehungsweise auf dessen Freisetzung. Gut, man weiss, im November geschehen die meisten Selbstmorde. Die menschliche Aggression setzt sich in diesem Fall - vielleicht beeinflusst durch diesen, im langjährigen Durchschnitt eher düsteren Monat - gegen sich selbst frei. Das mag ein Hinweis sein. Aber sonst?

Viele Kriminalromane und -filme handeln an solchen düsteren Tagen, die nur aus Dämmerung und alles durchdringender Feuchte zu bestehen scheinen. Offenbar sehen sich viele Autoren gezwungen, ihre Geschichten an vernieselten Tagen beginnen zu lassen. Oder ist es umgekehrt? Werden sie durch seltsame Kräfte gezwungen, an ebensolchen Nieseltagen mit dem Schreiben anzufangen und sie haben einfach nicht genügend Innovationskraft, sich ein besseres Wetter für ihre Geschichten auszudenken? Oder wirkt die meteorologische Situation noch tiefer? Vielleicht wollen viele Autoren eigentlich leichte Lyrik verfassen, aber das Wetter kommt ihnen dazwischen und das Resultat ist ein düsterer Krimi?

Was auch immer der Grund wofür auch immer sein mag, lieber Leser, es hatte zu Anfang des folgenden Falles genieselt! Und zwar seit Tagen!