Die Abdankung im Münster

 

Das Basler Münster zeigte sich an diesem Tag in einer gänzlich unevangelischen Pracht. Der verstorbene Fussballer Arne Fäh war katholischere Konfession gewesen. Um der Abdankung einen gebührenden Rahmen geben zu können, hatte die römisch-katholische Gemeinde Basels die protestantischen Kollegen angefragt, ob sie die Abdankung in deren Hauptkirche durchführen dürften. Im Sinne der Ökumene hatte diese dem Ansinnen zugestimmt. Innert kürzester Zeit waren dann etliche Altäre und Heiligenbildnisse entlang den Seitenschiffen angebracht worden. Sie strahlten in üppigen, goldenen Verziehrungen. Unzählige dünne Kerzen brannten an den verschiedensten Stellen. Die sich gegen Himmel reckenden Fenster, mit den uralten bemalten Scheiben, liessen bunttrübes Licht hereinsickern. Die mächtige Orgel erfüllte den hohen Kirchenraum mit gewaltigen Bässen. Alle Bänke waren gerammelt voll; auch in den Gängen drängten sich die Menschen. Auf eilig zusammengebauten, an zwei Säulen des Mittelschiffes befestigten Gerüsten waren Fernsehkameras, Mikrophone und Fotoapparate aufgebaut. Tontechniker drehten an Reglern und Knöpfen. Im Hintergrund kommentierten Reporter die Szene in gemurmelten Worten.

Im Chor hatte sich Pater Sigismund in seinen voluminösen Gewändern hinter einem kunstvoll geschnitzten Pult bereit gemacht, um die Abdankung zu zelebrieren. Seine Leibesfülle betonte das heilige Gewicht seiner Kleidung. Der fehlende Hals liess sein Kinn auf dem steifen Kragen seines Gewandes ruhen. Zu seinen beiden Seiten war ein Dutzend Ministranten aufgereiht, bereit die notwendigen Rituale auszuführen.

Die Luft war voll vom Duft der zahlreichen Blumensträusse und der Parfüms der Damen der Gesellschaft. Zahlreiche Kränze standen entlang dem Chor, der grösste war - wie in prunkvollen goldenen Lettern zu lesen war - von der Stadtregierung gespendet worden. Die ganze Pracht konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der Kirche sehr kalt war. Die Trauernden hatten sich in ihre Mäntel gewickelt und hofften, dass die drängende Enge auf den Bänken sie bald etwas wärmen würde.

Nachdem das Orgelspiel geendet hatte und die Klänge verhallt waren, senkte sich tiefe Stille über die Anwesenden. Eine seitlich des Chors befindlich Tür wurde von aussen geöffnet und die nasse Trauerfamilie betrat die Kirche. Die Bestattung des verstorbenen Fussballers hatte im engsten Familienkreis bereits stattgefunden. Nun kamen sie ins Münster, um der offiziellen Abdankung beizuwohnen. Sie nahmen auf zwei seitlich des Chores für sie bereitgestellten Bänken Platz.

Von ihren Plätzen aus beobachteten zwei Polizisten die Szene.

„Es ist sehr wichtig, bei Beisetzungen dabei zu sein", erklärte Tanner halb zu Grathwohl, halb zu sich selbst. „Man hat die einmalige Gelegenheit, viele der Beteiligten auf engstem Raum zu beobachten, wie sie sich untereinander verhalten. Sympathien, Antipathien werden sichtbar, Konflikte werden ausgetragen, Versöhnungen finden statt; hochinteressant diese Situation."

„Unglaublich dieser Menschenauflauf", staunte der Assistent.

„Pscht." Zwei Reihen hinter den Polizisten blickte eine ältere Dame vorwurfsvoll zu ihnen.

Der Pfarrer begann zu sprechen.

„Liebe Angehörige, sehr verehrter Stadtrat, liebe Trauergemeinde. Wir haben uns hier versammelt, um den Tod von Arne Fäh zu betrauern, der auf so grausame Weise mitten aus seinem jungen Leben gerissen wurde. Unbegreiflich ist es ..." Seine volle Stimme hallte lange nach; die ungünstige Akustik der Kirche machte sich störend bemerkbar. Um verstanden zu werden, musste der Pfarrer sehr langsam sprechen.

„Haben Sie die Kaffeefreundinnen von Frau Fäh schon entdeckt?" fragte der Ermittler flüsternd.

„Sie meinen Frau Fäh-Übersax, nicht wahr? Marianne Peters sitzt nämlich gleich neben der ersten Säule links."

„Ja, ich sehe sie. Und neben ihr sitzen Gempert, Martens und Frau Sternberg. Und dahinter die Büttighofer und Frau Schmid."

„Alle da."

„Pscht." Wieder die ältere Dame.

Der Pfarrer verkündete: „Wir erheben uns und singen die Strophen 4,5 und 6 von Lied Nummer ... " Lautes Klappern und Kleiderrascheln übertönte seine letzten Worte, als sich die ganze Trauergemeinde erhob, die Gesangsbücher hervorkramte und das verlangte Lied suchte. Die Orgel begann mit dem Vorspiel. Mit kräftigen Bässen forderte sie die Gemeinde dann zum Singen auf. Wie üblich waren fast nur weibliche Stimmen zu hören, Männer schienen plötzlich kaum mehr anwesend zu sein. Das Hallen der dröhnenden Musik und die hinterher hinkenden dünnen Stimmen vermischten sich zu einem Klangbrei. Der Assistent liess wieder seinen kräftigem, wohltönendem Bariton erklingen. Fast hätte Tanner selbst eingestimmt, doch dann sah er, dass gleich neben Elsbeth Schmid der Wirt des Caffe stand und in sein Gesangsbuch stierte. Er sang nicht mit, sondern schien die Witwe eingehend zu beobachten. Diese musste gerade niesen und suchte nach einem Taschentuch. Eines der Familienmitglieder reichte ihr eines.

Als der letzte Klang des Liedes verhallt war, kündigte der Pfarrer an, dass nun der Bruder des Verstorbenen den Lebenslauf verlesen werde. Mit grossartiger Geste bat er ihn nach vorne ans Pult.

„Die gesamte Mannschaft des FC Basel ist übrigens anwesend," machte Grathwohl seinen Chef murmelnd aufmerksam. Als dieser sie nicht auf Anhieb fand, zeigte er sie ihm mit ausgestreckten Arm. Sie sassen stumm in uniformen Anzügen im rechten Seitenschiff. Die meisten machten einen ergriffenen Eindruck. Der Torwart, sonst als ziemliches Raubein bekannt, schien gar den Tränen nahe zu sein. Die beiden erst kürzlich eingekauften, aus Afrika stammenden Stürmer, die den Ermordeten kaum gekannt hatten und die hiesige Sprache nicht verstanden, bestaunten mit weissen Augen die für sie fremdartige Szenerie. Sie bibberten bereits in der Kälte der Kirche.

„In der ersten Reihe sitzt die versammelte Stadtregierung. Sogar die Fürsorgereferentin, die damals vehement gegen den Bau des neuen Stadions eingetreten ist, ist dabei. Der Stadtpräsident studiert übrigens ein Schriftstück."

„Wahrscheinlich wir er auch ein paar Worte sagen", vermutete Grathwohl.

„Ich habe ihn noch nie „ein paar Worte" sagen hören. Seine Reden sind für ihre epische Länge berüchtigt. Das werden wir wohl noch über uns ergehen lassen müssen."

„Pschscht", klang es aggressiv vom Platz der älteren Dame. Zwei weitere Personen schlossen sich dem Zischen an. Tanner drehte sich zu den Leuten um. Dabei erblickte er, kam fünf Meter entfernt sitzend, die bekannteste Reporterin des Blattes, die ihn abschätzig musterte und sich dann eifrig Notizen machte.

„Die Kliebenschädel ist auch wieder da", presste Tanner zwischen den Zähnen hervor.

„Ja, sie sagte mir, sie würde auch hierher kommen."

„Soso, sagte sie Ihnen", echote Tanner mit einem lauernden Seitenblick auf seinen Assistenten.

„Nachdem Sie vorhin zum Auto gestürmt waren, haben wir uns kurz unterhalten."

Ein unsanfter Stoss an die rechte Schulter liess Tanner sich umdrehen. Die ältere Dame hatte gerade ihren Stock wirkungsvoll eingesetzt. Finster blickte ihr faltiges Gesicht. Tanner wollte sich gerade erheben und ihr eine passende Antwort geben, als ihn ein Blick der Kliebenschädel innehalten liess. „Skandal bei Begräbnis: Chefermittler streitet mit hilfloser Rentnerin", solche Schlagzeilen wollte er nicht provozieren.

Die Orgel setzte zu einem kurzen Zwischenspiel an. Tanner lehnte sich zurück und versuchte sich zu entspannen. Er liebte Orgelmusik dann, wenn sie genügend kräftige Bässe enthielt, die einem die Eingeweide zum Mitschwingen brachten. Der Organist schien diese Vorliebe zu teilen, denn das gespielte Stück liess mit seinen tiefen Tönen das Gebäude Vibrieren.

Tanners Befürchtungen bewahrheiteten sich. Kaum hatte die Orgel geendet, verkündete Pater Sigismund, dass nun der Stadtpräsident reden würde und setzte er sich in einen prächtigem Thronartigen Sessel, der einige Meter hinter dem Altar aufgestellt war. Der Stadtpräsident erhob sich und begann mit seiner Würdigung des Verstorbenen. Offenbar hatte er noch nie im Münster gesprochen, denn er redete viel zu schnell, so dass seine Worte von ihrem eigenen Widerhall zu einem unverständlichen akustischen Brei zerstampft wurden. Trotz der Kälte schienen einige der Anwesenden davon eingeschläfert zu werden. Immer mehr Köpfe sanken vornüber. Tanner schaute nach hinten und - tatsächlich - die ältere Dame war ebenfalls eingenickt.

„Ist Ihnen hier sonst noch jemand aufgefallen, den Sie bei den bisherigen Ermittlungen kennen gelernt haben?", fragt er flüsternd seinen jungen Kollegen.

„Fäh hatte eine Gruppe von alten Kumpels, seine Clique, wie die Witwe sie nannte. Die sind auch hier. Sie sitzen bei der Familie."

Frau Fäh-Übersax nieste mitten in eine rhetorische Pause des Stadtpräsidenten hinein, was einige der Schlafenden weckte. Ein strafender Blick des in seinem Sessel thronenden Paters traf sie. Die Kälte stieg Tanner von den Füssen her langsam die Beine hoch. Er bemerkte, dass Grathwohl Handschuhe aus einer Jackentasche holte und anzog.

„Ich weiss nicht, ob ich in der Lage sein werde, mich je wieder von dieser Bank zu erheben, falls noch ein paar solcher Reden kommen", brummte Tanner hinter vorgehaltener Hand.

„Zumindest eine Rede steht uns noch bevor", antwortete Grathwohl und deutete nach vorn. Dort wurde gerade der Stadtpräsident von der Präsidentin des Fussballvereins am Pult abgelöst. Tanner hob den Blick ergeben zum Himmel. Hinter sich hörte er ein leises Schnarchen. Die Rede war erfreulich kurz, aber offenbar sehr emotionsgeladen, denn die Stimme der Präsidentin schien mehrmals fast ersticken zu wollen. Das Schnarchen wurde immer lauter. Tanner drehte sich um und stellte fest, dass die ältere Dame mit zurückgefallenem Kopf im Bank sass und mit offenem Mund schnarchte. Mit einem zufriedenen Grinsen beobachtete er ihr Erwachen, als sich die Trauergemeinde auf Geheiss des Pfarrers zum Gebet erhob. Schuldbewusst blickte sie um sich. Ein verlegenes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie den Blick des Polizisten auf sich ruhen sah. Er zwinkerte ihr zu und wandte sich wieder nach vorn.

Das Gebet war lang und lateinisch. Es wurde von einem Lied gefolgt. Und dann von der Predigt des Pfarrers. Sie wurde umrahmt von einer komplizierten Choreographie der Ministranten. Zwei Mal zuckte der Priester während der perfekt inszenierten Zeremonie zusammen, als die Witwe herzhaft nieste. Einmal zitterte der Messbecher bedenklich in seiner Hand. Ansonsten gelang ihm aber eine eindrückliche Vorstellung seiner Kunst. Nach einem weiteren Lied und dem Hinweis auf den Zweck der heutigen Kollekte entliess Pater Sigismund die eingefrorenen Gemeinde. Sofort begannen die zahlreichen Reporter und mobilen Fernsehteams dem Ausgang zuzustreben, um ein Bild der Trauerfamilie zu erhaschen, wenn diese die Kirche verlassen würde und um als erste unsäglich originell-betroffene Fragen an die Witwe zu stellen. Die Trauerfamilie schüttelte dem selbstgefällig in sich ruhenden Pfarrer zum Dank die Hand und verliess die Kirche durch die Seitenpforte.