Die Zeugin aus Grossauen

 

„Hier habe eine interessante Zeugin, die ihnen selbst sagen möchte, was sie am Samstag Vormittag gesehen hat", sagte Grathwohl, öffnete die Tanner Bürotür ganz und führte eine ältere Frau herein. Sie trug einen verwaschenen blauen Regenmantel und ein kariertes Kopftuch. Unter dem Mantel lugten dürre Beine mit dicken Strümpfen hervor, die in ausgetretenen Halbschuhen endeten. Sie ging etwas gebeugt, aber ihre blitzenden Augen verrieten, dass in diesem schon etwas gebrechlichen Körper ein heller Geist wohnte. Tanner bot ihr einen Stuhl am ovalen Tisch an und sie setzte sich, wobei sie erleichtert stöhnte. Der Assistent erklärte:

„Das ist Frau Stirnemann. Sie wohnt in einem Haus auf der gegenüber liegenden Strassenseite von Meiers in Grossauen. Sie hat jemanden gesehen, der das Haus des Opfers ..."

„Ich werden schon selbst erzählen was ich gesehen habe", unterbrach die Zeugin den jungen Polizisten mit brüchiger Stimme. „Aber zuerst will ich mir diesen vergnügungssüchtigen Hauptermittler einmal anschauen. Das müssen Sie sein." Mit einem gichtigen Finger deutete sie auf Tanner.

„Sie haben mich entlarvt, ich gestehe", entgegnete dieser schmunzelnd. „Sie lesen also das Blatt."

„Und die Basler Zeitung, die NZZ, den Tagesanzeiger und noch andere Zeitungen. Mensch will schliesslich wissen was so geht. Fernsehen tu ich nicht, mein Radio ist schon lange kaputt, da lese ich halt Zeitung. Auch wenn meine Augen nicht mehr so recht wollen." Wie zur Bestätigung zog sie eine dicke Hornbrille hervor und steckte sie sich auf die dünne Nase. Dann betrachtete sie den Ermittler einige Sekunden lang sehr genau.

„Aha, das dachte ich mir schon. Das Blatt lügt wieder einmal. Sie sind ganz sicher kein vergnügungssüchtiger Mensch. Ganz im Gegenteil. Etwas mehr Vergnügen würde Ihnen sogar gut tun. Sie sind viel zu ernst, junger Mann, ja fast traurig." Tanner schluckte unmerklich.

„Also, da Sie mich nun analysiert und damit etwas rehabilitiert haben, möchten Sie uns vielleicht doch erzählen, was Sie denn am vergangenen Samstag beobachtet haben."

„Und etwas mehr Geduld wäre auch gut für Sie. Aber bitte, ich erzähle Ihnen, was sie hören wollen." Sie steckte die Brille wieder in die Manteltasche zurück und holte Atem.

„Ich gehe ja nicht mehr oft aus, sondern verbringe die meiste Zeit zu Hause. Da lese ich, koche mein Essen, wasche, putze, was man im Haus halt so tut. Und manchmal schaue ich aus dem Fenster, was sich draussen so tut. Im Winter natürlich viel seltener, weil da kaum jemand im Freien ist. Aber am Samstag kam jemand die Strasse hinauf, der mir auffiel. Die Person trug zwei grosse Koffer und hatte deshalb keine Hand frei für einen Schirm. Dafür trug sie einen breitkrempigen Hut. Sie suchte offenbar eine Adresse, denn sie schaute bei jedem Haus auf die Nummer. Sie müssen wissen, bei uns tragen die Häuser keine aufeinander folgende Nummern, sondern die Feuerversicherungsnummer ergibt die Hausnummer. Deshalb kann man nicht abzählen wenn man ein bestimmtes Haus sucht, sondern muss jede Nummer anschauen. Jedenfalls als die Person bei Meiers ankam, hatte sie offenbar gefunden, was sie suchte. Sie ging in den Garten. Und mehr kann ich leider nicht sagen, denn die Haustür von Meiers kann ich von meinem Haus aus nicht sehen."

„Das ist allerdings sehr interessant für uns, Frau Stirnemann. Darf ich fragen, weshalb sie von einer „Person" sprechen und nicht von einem Mann oder einer Frau."

„Ich hatte meine Brille nicht dabei, und drum kann ich Ihnen nicht sicher sagen, was es war. Wahrscheinlich schon ein Mann, aber sicher gesehen habe ich es nicht."

„Sie können uns also keine genauere Beschreibung der „Person" geben. Aber vielleicht sind Ihnen sonst noch wichtige Sachen aufgefallen. Vielleicht können sie anhand des Ganges der Person sagen, ob sie alt oder jung war."

„Oh, die war jung - und schlank. Sie hat mich irgendwie an meinen verstorbenen Mann erinnert als er noch jung war. Er war ein grosser, sehr schlanker Mensch, müssen Sie wissen. Irgendwie hatte diese unbekannte Person etwas von ihm."

„Und die Hautfarbe?" wollte die Sekretärin wissen.

„Er war grün!" lachte die alte Dame. Wieder ernst fuhr sie fort. „Ich habe sie leider nur von hinten gesehen, meine aber einen weissen Hals gesehen zu haben."

„Haben Sie auch gesehen, wie die Person das Haus wieder verliess", wollte Diener wissen.

„Nein, leider nicht. Ich hatte gerade einen Kuchen im Ofen - meine Enkel wollten am Sonntag vorbeikommen, da habe ich einen Schokoladekuchen gebacken - und den musste ich herausnehmen. Eigentlich zu früh, aber die Kleinen haben es gern, wenn der Kuchen noch ein Bisschen teigig ist. Ich habe erst wieder herausgeschaut, als ich eilige Schritte hörte. Ich sah dann zwei Leute die Strasse hinunter rennen, in der Richtung, aus der der Unbekannte vorher gekommen war. Wegen des Kuchens hatte ich in der Zwischenzeit meine Brille aufgesetzt und kann deshalb sagen, dass diese beiden Leute hier anwesend sind." Mit ihrem dürren Zeigefinger deutete sie nacheinander auf Tanner und Grathwohl.

„Können Sie uns sonst noch etwas sagen?" wollte Tanner wissen.

„Im Moment fällt mir eigentlich nichts mehr ein. Ich weiss auch nicht, ob Ihnen das geholfen hat, was ich sagen konnte. Ich konnte die Person ja nicht wirklich beschreiben."

„Sie haben uns Wichtiges zum Verhalten dieses Menschen gesagt, das uns am Ende vielleicht ebenso weiterhilft, wie eine Beschreibung. Ich möchte Ihnen herzlich dafür danken, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, bei uns vorbeizukommen."

„Oh, es war mir ein Vergnügen. Vor allem die Autofahrt mit dem anderen jungen Mann war lustig. Ich hatte noch selten so viel Spass in einem Auto. Aber - unter uns gesagt - er fährt schon ziemlich schnell."

„Ich werde Herrn Schwab anweisen, ältere Damen in Zukunft in etwas gemessenerem Tempo zu befördern."

„Nein, bloss nicht, auch wir Alten möchten manchmal einen Adrenalin-Kick", lachte sie krächzend, erhob sich stöhnend und verliess das Büro. Als sich der Assistent anschickte, sie zu begleiten meinte sie, sie würde den Weg schon selbst finden.

„Der Herr Schwab wartet unten auf mich", sagte sie mit einem listigen Grinsen. „Er hat versprochen, mich nach Hause zu fahren." Damit knarrte sie langsam den Flur hinunter und war bald verschwunden. Der Assistent schloss die Bürotür.

„Wenn sie jetzt denken, dass diese liebenswürdige, etwas verschrobene alte Dame in einem heruntergekommenen, kleinen Häuschen wohnt, irren Sie sich. Ihr Haus ist das grösste an der ganzen Strasse: die Villa an der Ecke. Sie ist frisch renoviert und umgeben von einem riesigen gepflegten Garten. Die Dame hat wahrscheinlich Geld wie Heu."