Bei Frau Meier im Krankenhaus

 

Tanner und Grathwohl liessen sich vom Leichenwagen, welcher den ermordeten Garagisten ins pathologische Institut der Universität brachte, bis zum städtischen Krankenhaus mitnehmen. Sie wollten nach der Witwe sehen; ob es ihr besser ging und sie vielleicht schon vernehmungsfähig war. Tatsächlich erhielten sie beim zuständigen Arzt die Auskunft, dass sie sich erstaunlich schnell erholt hätte, dass sie sogar ohne Medikamente auskomme und seinerseits keine Bedenken bestünden, eine polizeiliche Befragung zu erlauben. Eine Krankenschwester führte die beiden Polizisten zum Zimmer von Sophie Meier. Sie klopften an und traten ein, nachdem sie von der Witwe dazu aufgefordert worden waren. Sie sass im Lehnstuhl auf der Fensterseite neben ihrem Krankenhausbett, die Beine in eine Wolldecke gewickelt. Der Oberkörper steckte in einem üblichen Krankenhaushemd. Sie wirkte zwar klein und verletzlich in dieser antiseptischen Umgebung, doch in ihren Augen stand eine gespannte Aufmerksamkeit.

Ihre Schwester war das pure Gegenteil. Sie stand vor der Fensterfront. Ihre selbstbewusste, aufrechte Haltung brachte das offensichtlich teure, fliederfarbene Kostüm ideal zur Geltung. Ein violetter Kaschmirmantel hing über der Lehne eines hölzernen Stuhles.

„Guten Tag, meine Damen", grüsste Tanner und gab zuerst Sophie die Hand.

„Es tut uns sehr leid, was heute passiert ist. Wir möchte Sie unserer herzlichen Anteilnahme versichern. Ausserdem möchten wir uns dafür entschuldigen, dass wir nicht verhindern konnten, dass Sie ihren toten Gatten allein auffinden mussten."

„Danke für ihre freundlichen Worte. Ja, es war ein grosser Schreck für mich, meinen Mann so zu finden", erwiderte die Witwe leise.

Dann wandte sich der Ermittler an die Schwester.

„Frau Werder, nicht wahr? Mein Name ist Tanner, ich leite die polizeilichen Ermittlungen. Danke, dass Sie so schnell hierher kommen konnten."

„Selbstverständlich wollte ich Sophie, nach diesem schlimmen Fund zur Seite stehen."

„Oh ja, der Anblick des Toten allein war schon schlimm, aber was ich persönlich am übelsten fand, war dieser ekelerregende Gestank nach verbranntem Fleisch. Noch jetzt hängt er mir in der Nase - geht es Ihnen auch so?" fragte der Polizist zu Frau Meier gewandt. Mit grossen Augen nickte sie stumm, erbleichte dann leicht. Sie wollte zu einer Antwort ansetzen, doch plötzlich ergriff sie eine auf dem Nachttisch neben dem Bett liegenden Chromstahlschale, drehte sich ab und erbrach sich würgend.

Die Schwester hatte sich angewidert abgewandt. Tanner zog die Schultern hoch und machte mit den Händen eine entschuldigend Geste. Er läutete nach einer Pflegerin. Augenblicklich, wie wenn sie vor der Tür gewartet hätte, trat eine pummelige junge Krankenschwester ein.

„Frau Meier musste sich übergeben", verkündete Grathwohl und machte die Krankenschwester auf die volle Schale aufmerksam. Diese ging zögernd zur Patientin und nahm ihr die Schale mit konzentriertem Blick aus der Hand. Ohne das Erbrochene nochmals anzuschauen, drehte sie sich um und eilte aus der Türe. Kurz darauf ertönte ein schepperndes Geräusch gefolgt von einem unterdrückten aber unüberhörbaren Fluch.

„Ich war wohl etwas - taktlos, Entschuldigung", sagte Tanner zu den beiden Frauen.

„Sophie war schon immer etwas schwach auf dem Magen. Ich habe mich deshalb schon lange gewundert, wie sie diesen Mann ausgehalten hat."

„Ach, er war nicht so übel, wie du immer sagst," flüsterte Sophie Meier.

„Er war ein Langweiler und ein Versager. Das habe ich dir von Anfang an gesagt."

„Ich habe ihn geliebt," erwiderte Sophie mit klagendem Blick, der dann etwas nachdenklich wurde. „Zumindest eine Weile lang. Ja, du hast nicht unrecht, er war ein - Langweiler. Aber wir kamen gut zurecht."

„Solange du sein ergebenes Dienstmädchen warst, wenigstens."

„Er musste hart arbeiten, und da schaut man als Frau halt zum Haushalt, das ist doch ganz normal."

„Du hast auch einen Beruf. Und du warst gut, hattest dich damals in der Bank schon nach kurzer Zeit etwas hochgearbeitet. Du hättest Karriere machen können."

„Ach, immer die alte Leier. Ich habe mich eben anders entschieden."

„Entschuldigen Sie bitte, wenn ich unterbreche, meine Damen. Aber ich würde Frau Meier gern noch ein paar Fragen stellen, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlt."

„Wenn Sie Rücksicht auf meinen Magen nehmen, wird es schon gehen", antwortete Sophie, worauf Tanner mit einigen Erklärungen begann.

„Wir stehen noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen. Zuerst muss geklärt werden, ob wir überhaupt von einem Verbrechen ausgehen müssen, oder ob es sich um einen Unfall handelte. Ferner ist es auch möglich, dass der Tod ihres Mannes durch einen Einbrecher verursacht wurde, als er ihn überraschte. Zu diesem Zweck möchten wir Sie auch bitten, zusammen mit einem Kollegen von uns, bald nachzuschauen, ob in ihrer Wohnung etwas fehlt. Wir haben allerdings den starken Verdacht, dass Ihr Mann ermordet wurde. Sie müssen wissen, dass meine Kollege und ich, nachdem wir ihren Mann entdeckt hatten, eine verdächtige Person verfolgten, die uns leider entwischte."

„Kann ich denn bald in unser Haus zurück?

„Das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Es hängt davon ab, wann die Kollegen von der Spurensicherung in der Wohnung fertig werden, wann die Laborresultate vorliegen und wie das Ganze dann zu beurteilen ist."

„Was zu beurteilen ist?"

„Ob im Lauf der Ermittlungen weitere Untersuchungen vor Ort notwendig sein könnten. Hätten Sie denn ein Ausweichquartier? Zum Beispiel bei Frau Weder? Notfalls kann Ihnen unserer zuständige Sachbearbeiterin sonst eine vorübergehende Bleibe beschaffen."

„Selbstverständlich kann Sophie bei mir bleiben."

„Nun gut. Sie sagten am Tatort, Sie hätten einen Bus später genommen als Sie eigentlich wollten. Was heisst das?" begann der Ermittler die eigentliche Befragung.

„Wissen Sie, mein Mann legt - legte - immer grossen Wert auf pünktliche Mahlzeiten. Damit am Samstag das Mittagessen Schlag zwölf bereit steht, kehre ich jeweils spätestens um elf nach zu Hause zurück. Aber heute verspürte ich einen so grossen Widerwillen heimzukehren, dass ich nach dem Einkaufen erst noch sehen wollte, ob ich im CAFFE eine meiner Kolleginnen zu einem kurzen Schwatz antreffen würde."

„Und? War jemanden da?"

„Glücklicherweise. Sie haben mir geholfen, eine kurze Zeit abzuschalten."

„Handelt es sich um Damen, die wir bereits kennen?" erkundigte sich Tanner und, als Frau Meier nickte fuhr er fort. „Ich bitte Sie am Schluss unseres Gesprächs Herrn Grathwohl die Namen anzugeben." Dann fasst er die Witwe scharf ins Auge. „Mir sind ein paar Ihrer Bemerkungen aufgefallen, und auch das Gespräch mit Ihrer Schwester vorhin, schien mir ziemlich aufschlussreich. Ich vermute, dass ihre Ehe nicht besonders glücklich war?"

„Naja. Aber auch nicht besonders - unglücklich", meinte Sophie wage.

„Wie unglücklich war sie denn?"

„Wir hatten die stürmischste Zeit unserer Liebe hinter uns", begann sie, wurde aber von ihrer Schwester unterbrochen.

„Hattet ihr je eine stürmische Zeit? So wie ich Gerhart kenne - kannte - war ein Handkuss für ihn schon ein halber Orgasmus." Ohne darauf einzugehen, fuhr Frau Meier fort.

„Mein Mann, oder besser gesagt seine Autowerkstatt, hatte schon länger mit finanziellen Problemen zu kämpfen, vor allem in den vergangenen fünf Monaten. Die Kunden blieben mehr und mehr aus. Er musste sogar seinen Mechaniker kürzlich entlassen. Das hat ihn sehr mitgenommen. Als ich ihm anbot, eine Teilzeitstelle zu suchen, war er beleidigt und unterstellte mir, ich wolle ihn vor der ganzen Nachbarschaft blossstellen. Und ihm damit sagen, er sei ein Versager, nicht einmal in der Lage, seine Frau zu ernähren. Und seine Frustrationen hat er manchmal an mir ausgelassen. Er hatte kaum mehr ein freundliches Wort für mich übrig, hat mir keine Freiheiten gegönnt; ich war nur noch seine Dienstmagd. Nur meine Gartenarbeit, die habe ich mir nicht nehmen lassen."

„Zu Ihrem Garten sind Sie wirklich zu beglückwünschen, sagte der Assistent plötzlich. „Ich habe noch nie im November einen solch prächtigen Garten gesehen." Sophie lächelte ihn dankbar an. Tanner fuhr fort.

„Ist es zu Gewalttätigkeiten gekommen?"

„Ich weiss nicht, ob man das so nennen kann."

„Was, bitte?"

„Ich habe vorgestern das Mittagessen anbrennen lassen, und aus Wut hat er daraufhin mein Rosenbeet wie ein Rasender zerstört."

„Ist er auch gegen Sie persönlich tätlich geworden?"

„Nein, so weit ist es nicht gekommen."

„Was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie ihren Mann heute fanden?"

„Das ist schwierig zu sagen. In meinem Kopf ist ein einziger Sturm von Gedanken und Gefühlen ausgebrochen, dass ich mich kaum erinnern kann."

„Woran erinnern Sie sich noch?"

„Was ist passiert, helfen wollen, nicht wissen wie, was geschieht nun mit mir, hat er sich umgebracht, bin ich Schuld, was habe ich falsch gemacht ... und - ganz am Schluss - war ich ... irgendwie... erleichtert. Schlimm, dass sagen zu müssen, aber es war so."

„Er starb an einem starken Stromschlag. Können Sie sich das erklären?"

„An einem Stromschlag? In unserem Haus? Wie ist das möglich?"

„Man nimmt eine Haushaltmaschine für eine Reparatur auseinander ohne den Stecker zu ziehen. Man wechselt eine Birne und vergisst die Sicherung herauszuschrauben. Das gibt's."

„Mein Mann ist - war - Handwerker. Er wusste mit elektrischen Geräten umzugehen."

„Ist es in Ihren Augen denn wahrscheinlicher, dass er ermordet wurde? Hatte er Feinde?"

„Feinde?" Sie dachte einen Augeblick nach. „Nein, mir käme da niemand in den Sinn. Er hatte wenig Freunde, ja, aber Feinde?"

„Wie hat es der Mechaniker aufgenommen, als er seine Stelle verlor?"

„Mein Mann hat mir nichts Genaueres darüber erzählt, aber es schien eine ziemliche Szene gegeben zu haben, denn an dem Tag, kam er fix und fertig nach Hause."

„Sie verzeihen, wenn ich Sie das frage, aber könnte er ein aussereheliches Verhältnis gehabt haben? Gab es Seitensprünge?" Frau Werder lachte kurz verächtlich auf.

„Ich hatte nie Grund anzunehmen ..." Sophie beendete den Satz nicht und schüttelte den Kopf.

„Hatte er Alkohol- oder Drogenprobleme?"

„Drogen? Nein! Er fluchte gern über all die Junkies und Hascher und wasweissich. Er hat ganz gewiss keine Drogen genommen. Hin und wieder ein Bier, auch Mal eines zu viel, das ist vorgekommen."

Der Ermittler erhob sich und fragte seinen Assistenten, ob er noch Fragen habe. Als dieser verneinte kam er zum Schluss der Befragung.

„Für den Moment genügt uns das, Frau Meier. Ich danke, dass Sie nach diesem schrecklichen Erlebnis bereit waren, mit uns zu reden. Würden Sie zum Schluss bitte meinem Kollegen noch anzugeben, wen Sie heute Vormittag im CAFFE trafen. Und auch Namen von Freunden und Bekannten Ihres Mannes würden uns interessieren. Und der Name des entlassenen Mitarbeiters."