Wie Tanner sein Tarot erhielt 

 

Tanners Gedanken gingen - wie so oft, wenn er die Karten aus ihrem Schubfach nahm - zurück zu dem Tag, als er sie erhalten hatte.

Er verbrachte damals, kurz nach dem Tod seiner Geliebten Laura auf Veranlassung seines damaligen Chefs Ferien in einem Dorf in den Alpen. Er sollte sich eine Woche Zeit für sich selbst nehmen, trauern, nachdenken, wandern, lesen. Eines Nachmittags war er durch die engen Gassen des Dorfes geschlendert, als er einen Laden fand, der voller alter Gegenstände und Gerätschaften war. Unwiderstehlich war die Anziehungskraft, fast fühlte er sich durch die enge, in violetter Farbe gestrichene Eingangstür gesogen. Er fand sich wieder in einer Welt des organisierten Chaos. Unzählige Gegenstände lagen, standen, hingen oder lehnten an den Wänden, auf dem Boden, an der Decke, auf Gestellen, in offenen Schränken, auf Kommoden und Fenstersimsen. Irgendwie schien ihnen eine geheime Ordnung innezuwohnen, ohne dass sie zu beschreiben gewesen wäre. Kaum die Hälfte des Inventars hätte Tanner benennen können, obwohl die Gerätschaften und Gebrauchsgegenstände keineswegs fremdartig wirkten. Mehr als eine Minute war er einfach staunend unter der Tür stehen geblieben und hatte den Blick wandern lassen. Da wurde er von einer freundlichen Stimme herein gebeten. Die Stimme gehörte einem bärtigem Mann von etwa sechzig Jahren, der ihm hinter einer hohen Theke stehend belustigt zuschaute.

"Kommen Sie ruhig herein, mein Herr. Suchen Sie etwas Bestimmtes?"

"Nein, ich bin nur zufällig hier vorbei gekommen. Darf ich mich einfach etwas umsehen?"

"Aber gern. Fragen Sie, wenn Sie etwas wissen möchten."

Als der Ermittler sich bedankt und bereits dem ersten Gestell zugewandt hatte, fügte der Mann den rätselhaften Satz an: "Sie werden schon finden, was zu Ihnen gehört."

Tanner stöberte zwischen den Hunderten von kleinen und grossen Dingen, die alle in bestem Zustand waren. Der Laden schien fast täglich aufgeräumt und abgestaubt zu werden, ohne dabei pingelig zu wirken. Die Ordnung hatte etwa Grosszügiges oder Nachsichtiges an sich. Hinter einem enormen Steingutgefäss, das ein Nachttopf hätte sein können, wäre es dafür nicht viel zu gross gewesen, entdeckte er schliesslich ein kleines ledernes Etui. Es zeugte von schlichter aber dauerhafter Handwerkskunst und war so abgegriffen, als sei es durch tausend Hände gegangen. Er nahm es hervor und betrachtete es von allen Seiten. Nähte aus kräftigem Zwirn hielten die Einzelteile zusammen, Das Rückenteil war einige Zentimeter länger als das Vorderteil und als Deckel nach vorne geschlagen, wo es in eine Lasche eingesteckt war. Das Etui enthielt etwas.

"Sie scheinen fündig geworden zu sein", bemerkte der Ladenbesitzer, der den Besucher nicht aus den Augen gelassen hatte.

"Was ist das?" fragte dieser und trug das Etui zur Theke. Der Ladenbesitzer warf nur einen schnellen Blick auf das Fundstück.

"Ja, da haben Sie etwas ganz Besonderes entdeckt. Das ist ein sehr altes Tarot, Nehmen Sie es ruhig heraus."

Tanner öffnete das Etui und entnahm ihm einen Stapel Spielkarten.

"Ein Kartenspiel", stellte er etwas enttäuscht fest.

"Das ist keineswegs einfach ein Kartenspiel" erwiderte der Bärtige. "Offenbar wissen Sie nicht, was ein Tarot ist. Wenn Sie möchten erzähle ich Ihnen etwas darüber."

"Ja, gern".

"Gut. Sehen Sie sich zunächst einmal die Karten in Ruhe durch. Sie werden erkennen, dass jede einzelne eine Geschichte erzählt, eine Stimmung oder ein Gefühl darstellt. Tarot ist kein Kartenspiel wie Poker oder wie sie alle heissen. Manche würden sagen, es sei ein Orakel. Ein Orakel, welches das Innere des Betrachters erschliessen kann." Mit einem vieldeutigen Blick zum Ermittler fügte er hinzu: "Gewisse Tarot-Spiele sollen sogar die Zukunft erkennen können."

Zweifelnd erwiderte der Polizist den Blick des älteren Mannes und dachte für sich, wie denn ein Kartenspiel die Zukunft kennen solle, schliesslich war Papier ja weder besonders intelligent noch sensibel. Dennoch übten die Kartenmotive eine seltsame Faszination auf ihn aus. Ein leiser Schauder kroch sein Rückgrat hoch. Er packte die Karten zurück in das Etui, legte es auf die Theke und fragte den Mann nach dem Preis.

"Wie viel würden Sie denn dafür bezahlen?" fragte dieser zurück.

Nachdenklich sagte Tanner: "Einerseits ist es alt und abgegriffen, vielleicht fast wertlos, anderseits erscheint es mir gleichzeitig auch seltsam wertvoll."

"Es gehört Ihnen, Nehmen Sie es."

Verblüfft sah er den Alten an. "Ist das Ihr Ernst?"

"Ja."

Zögernd, nahm Tanner das Etui wieder in die Hand und bedankte sich bei dem lächelnden Alten, dem dies sichtlich Spass zu machen schien. Er verabschiedete sich und wollte eben den Laden verlassen, als der Alte mit eindringlichem Tonfall anfügte: "Nehmen Sie sich Zeit. Lernen Sie ihr Tarot kennen. Lassen Sie es Sie kennen lernen."

Verwirrt verliess Tanner schliesslich den Laden und kehrte in sein Hotel zurück. Lange noch dachte er an diesem Abend über das Kartenspiel nach, das Tarot immer und immer wieder betrachtend. Schliesslich beschloss er, am nächsten Tag den Ladenbesitzer noch mehr über die Karten zu fragen. Gleich nach dem Frühstück machte er sich auf den Weg zum Laden. Er hatte zwar kleinere Schwierigkeiten, ihn im Gassengewirr wieder zu finden, doch schliesslich gelang es ihm. Er durchschritt die auffällige violette Tür und traute seinen Augen nicht, denn er betrat eine Metzgerei. Keine Spur mehr von Regalen und Schränken voller alter Gegenstände. Wo am Vortag noch Bilder hingen, baumelten nun Schweineseiten. In der Mitte des Raumes, auf einen schweren Holztisch gestapelt, lagen frische Kalbsköpfe. Der Raum war von einem atemberaubenden Geruch erfüllt. Ein schwergewichtiger, schmerbäuchiger Mann mit blutiger Schürze drehte sich zum Ermittler um und sprach ihn in breitestem Dialekt an. Unfähig zu antworten, bestaunte dieser die dicken, blutverschmierten Unterarme des Metzgers, das schwere Fleischermesser in seiner rechten und die schlabbrige Speckschwarte in seiner linken Hand. Eine kugelrunde, klein gewachsene Frau betrat den Laden und hängte Rauchwürste an einen Haken in der Wand links des Eingangs. Erneut sprach ihn der Metzger an. Benommen von den Eindrücken des Ladens zeigte Tanner verlegen auf die Rauchwürste und kaufte schliesslich eine davon. Er tastete sich aus der Tür, drehte sich um und schaute zurück in den Laden. Die Metzgerei blieb wo sie war. Wie im Traum, immer wieder zurückschauend, machte er sich auf den Rückweg zu seinem Hotel. Dort setzte er sich auf das Bett und betrachtete die gekaufte Wurst. Es blieb eine Wurst, sooft er sie auch anschaute. Schliesslich nahm er sein Taschenmesser und schnitt eine Scheibe davon ab.