Obduktion von Arne Fäh 

 

Der Arzt, Dr. Bernstein, hatte die Leiche des ehemaligen Fussballstars für die Obduktion vorbereitet. Das Beil war bereits aus dem Schädel entfernt worden, als der Ermittler und sein Assistent in der gerichtsmedizinischen Abteilung der Universität eintrafen.

"Nun, Grathwohl, dies wird eine erneute Prüfung für ihr Verdauungssystem werden. Ich hoffe, sie haben sich schon geistig vorbereitet" sagte Tanner streng. Noch immer war ihm der Ärger über das Gespräch mit dem Wirt des Caffe anzumerken. Er hasste es, wenn jemand versuchte, ihn zum Narren zu halten. Gleichzeitig weckte der Betreffende damit den Willen, ihn bis auf die Knochen zu durchleuchten und, falls es eine dunkle Seite in dessen Leben gab, diese zu entdecken und schonungslos auszuloten.

"Ich habe mich mit mentalem Training darauf eingestellt. Aus dem Sportbereich ist es bekannt, dass dieser Ansatz für Sportler sehr wichtig ist, um ein Ziel zu erreichen. Diese Methode wird heute auch mir helfen" antwortete der Assistent zuversichtlich.

Sie betraten den Obduktionssaal und begrüssten den Arzt.

"Meine Herren, dies wird eine Sectio wie sie im Lehrbuch steht. Sie werden Gelegenheit haben, die menschliche Anatomie in schönster Klarheit zu sehen. Dieser durchtrainierte Sportlerkörper verspricht Einblicke, die durch keinerlei Fettschichten oder Bindegewebshaufen getrübt werden." Er zog das weisse Laken, welches den Leichnam bisher verdeckt hatte, in der Manier eines Zauberkünstlers vom Obduktionstisch, als ob er den Erfolg eines magischen Tricks präsentieren wollte. Nur das triumphierende "Voilà" fehlte.

"Haben sie schon Gesichtspunkte zusammengestellt, denen mein besonderes Augenmerk gelten soll?" fragte der Mediziner. Tanner wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als Grathwohl selbstbewusst zu sprechen begann.

"Die Fundsituation lässt für uns medizinische Laien zwar wenig Zweifel über die Todesursache offen, dennoch sollte diese detailliert abgeklärt werden. Weiter interessiert uns sein allgemeiner Gesundheitszustand. Also, war er so gesund, wie der optische Eindruck seines Körpers vermuten lässt, oder liegen Anzeichen für relevante Erkrankungen vor."

Tanner nützte die Sprechpause und ergriff das Wort, bevor der Assistent weiterfahren konnte.

"Speziell interessiert uns, ob er in irgendeiner Form drogenabhängig war. Angefangen von Alkohol über Tabletten bis zu Kokain; Heroin, den modernen Designerdrogen und so weiter. Und schliesslich stellt sich die Frage, ob er zu Dopingmitteln griff, früher oder sogar heute noch."

"Also doch eine ganze Palette von Fragen, die es zu klären gilt. Wir beginnen deshalb gleich mit den Untersuchungen bezüglich des Dopingmittelmissbrauchs. Der erste Schritt dazu besteht bekanntlich aus einer Beurteilung der äusseren Erscheinung des Toten. Zum Beispiel können eine auffällig stark entwickelte Muskulatur oder eine aussergewöhnlich intensive Körperbehaarung Hinweise auf über längere Zeit verwendete leistungssteigernde Substanzen - zum Beispiel männliche Hormone - sein. Auch eine Beurteilung der Röntgenbilder, die wir bereits angefertigt haben, wird diesbezüglich Aussagen ermöglichen. Beginnen wir also."

Der Arzt streifte sich Latexhandschuhe über und zog einen Mundschutz an. Mit dem Hinweis auf mögliche Kontaminationen von Probenmaterial, veranlasste er die beiden Polizisten ebenfalls einen Mundschutz zu tragen und eine halben Schritt zurück zu treten. Er stülpte sich das Mikrofon einer Freisprechanlage über den Kopf und schaltete des Aufnahmegerät ein. Sein Diktat begann mit Angaben zu Datum und Uhrzeit, zur Person des Toten sowie zu den anwesenden Personen. Anschliessend kam er zur Beschreibung und Beurteilung der äusseren Erscheinung der Leiche. Minutiös untersuchte er alle Körperteile und redete pausenlos in sein Mikrofon. Er konnte keine aussergewöhnlichen Merkmale feststellen, die auf Dopingmittelmissbrauch gedeutet hätten. Nach rund einer Viertelstunde begann er mit der eigentlichen Obduktion. Mit einer entschlossenen Detailgenauigkeit wurde jedes Organ freipräpariert, beschrieben, beurteilt und beprobt. Zwei Mal musste er den Assistenten bitten, ein neues Band in das Aufnahmegerät zu legen.

Nach knapp zwei Stunden war die Arbeit getan. Der Arzt deckte den - nunmehr ziemlich entstellten - Leichnam mit dem weissen Laken zu, zog Handschuhe und Mundschutz aus und legte das Mikrofon neben das Aufnahmegerät. Er fasste in für die beiden Polizisten verständlicher Sprache seine ersten Eindrücke zum Zustand des Ermordeten zusammen.

"Die Todesursache hat sich bestätigt, wie nicht anders zu erwarten war. Schuld war der bekannte Schlag mit dem Beil und die dadurch verursachten Zerstörung lebenswichtiger Nerven und Blutgefässe. Er war offenbar nicht sofort tot, sondern durch die Wucht des Schlages zunächst nur betäubt. Der Tod erfolgte dann erst durch das Aussetzen der Atmung, welche durch eine Zerstörung der entsprechenden Hirnbereiche hervorgerufen wurde. Zum allgemeinen Gesundheitszustand gibt es nicht viel zu sagen. Der Tote war in hervorragender körperlicher Verfassung. Anhand der Röntgenbilder konnten wir zwar mehrere früherer Verletzungen erkennen, die sich jedoch ohne Weiteres mit der Fussballerkarriere des Opfers erklären lassen. Er war Nichtraucher, hat nur wenig Alkohol genossen und höchstwahrscheinlich nie über längere Zeit leistungssteigernde Substanzen konsumiert. Ob er allenfalls Drogen nahm oder ob gar Abhängigkeiten vorlagen, werden uns erst die Laboruntersuchungen sagen. Alles in allem scheint mir der Herr Fäh ein vorbildlicher Sportsmann gewesen zu sein, wie man sie sich wünscht. Genügt Ihnen diese vorläufige Beurteilung?"

"Ja, danke", antwortete Tanner, der seinen Mundschutz ebenfalls abgelegt hatte. "Auch wenn sie uns für den Moment keine Hinweise gibt, die für unserer Nachforschungen von Bedeutung sind. Wir warten natürlich die Laborergebnisse und Ihren schriftlichen Bericht ab. Gibt es aus Ihrer Sicht Gründe, den Leichnam noch zurück zu halten, oder kann er den Hinterbliebenen übergeben werden?"

"Die wichtigsten Laborergebnisse dürften bis morgen Abend vorliegen. Wenn diese nichts Besonderes ergeben, kann er am Samstag freigegeben werden."

Die beiden Polizisten schüttelten dem Arzt die Hände. Er machte den Assistenten zum Abschied darauf aufmerksam, dass er den Mundschutz nun ablegen könne und nahm ihn gleich in Empfang.

Auf dem langen Weg durch die Institutsgänge lobte der Ermittler seinen Assistenten.

"Bravo, Sie haben Ihre erste Obduktion bestanden."

"Ja, nicht wahr?"

"Bei meiner ersten Sectio war ich nicht so standhaft. Mir wurde schlecht und schwarz vor den Augen. Ich bin zehn Minuten später auf einem Schragen liegend erwacht. Zuerst dachte ich, man hätte mich irrtümlich in den Leichenkeller gefahren, und wollte mich schon mit Rufen bemerkbar machen. Doch dann sah ich einige grinsende Gesichter, die sich mir zuwandten, und die Erinnerung kehrte zurück."

"Tatsächlich?"

"Sie sagten, Sie hätten sich mit mentalem Training auf die Obduktion vorbereitet. Wie genau haben Sie das gemacht?"

"Ich habe mich darauf konditioniert, konsequent an etwas anderes zu denken. Und es hat hervorragend geklappt."

"Sie waren also gar nicht richtig bei der Sache?" entrüstete sich der Ermittler. "Und jetzt sagen Sie mir bitte, woran Sie denn statt dessen gedacht haben."

"An Sex" antwortete der Assistent ohne zu zögern. Der Ermittler blieb stehen, wandte sich seinem Kollegen zu und schaute ihn ungläubig staunend an.

"Wie bitte? Da wird vor ihren Augen ein Mensch zerlegt, und Sie können an Sex denken?"

"Das war das Naheliegendste. Männer denken schliesslich immer an Sex. Lassen Sie sich das von Frau Marianne Peters bestätigen."

"Herr Grathwohl! Ich habe Ihnen schon einmal klar gemacht, dass Polizisten im Dienst asexuelle Wesen zu sein haben. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich in Zukunft in dieser Hinsicht besser im Griff haben." Er drehte sich um, liess den Assistenten stehen und ging eiligen ärgerlichen Schrittes zum Ausgang.