Der Wunsch

 

Der Mond warf sein bleiches Licht durch die kahlen Wipfel der winterlichen Bäume und zeichnete gespenstische Schatten auf die weisse Leinwand des Dezembers. Die Kristalle des leichten Schnees auf den Ästen, im Dickicht des Unterholzes und auf den einsamen Wegen glitzerten wie kleine Diamanten. Dann und wann liess der lautlose Nordwind ein wenig von dem Schnee auffliegen, so leicht und locker war er gefallen.

Es war nicht mehr lange bis Weihnachten. Die alljährliche Hektik der Konsumgesellschaft nahm täglich zu. Momente der Ruhe waren selten, obwohl doch gerade diese Festtagszeit gemeinhin als besinnlich bezeichnet wurde. Nein, das stimmte nicht ganz: man wünschte einander eine besinnliche Weihnachtszeit. Ja, Wunsch und Wirklichkeit klafften wieder einmal auseinander. Leise knarrten Georg Tanners Schritte, wenn er seine schweren Schuhe in den Schnee senkte. Herrlich, den Wald ganz für sich zu haben, den Zauber dieser klaren Winternacht ungestört geniessen zu können. Und das Gefühl zu haben, der Erste zu sein. Der Erste nämlich, der hier, an dieser Stelle seine Spuren im Schnee hinterliess. Schlummerte nicht in jedem Menschen irgendwo der Wunsch, ein Pionier zu sein, wie Kolumbus in Amerika, Scott in der Antarktis?

Bei seiner Arbeit als Kriminalpolizist hatte er sich immer wieder gewünscht, der erste sein zu können. An den Tatorten nämlich - und zwar noch bevor die Tat begangen wurde, bevor der Ort zum Tatort wurde. Leider lag es in der Natur der Sache, dass ein Polizist erst dann gerufen wurde, wenn dies bereits geschehen war.

Er beobachtete seine Schuhe, wie sie abwechselnd den Schnee erknarren liessen. Rechts - links - rechts - links ... eine tiefe Zufriedenheit breitete sich in ihm aus. Wie wenig es doch manchmal brauchte. Er hob den Blick zum Himmel. Tausende Sterne füllten die Schwärze zwischen den Bäumen.

Und da! Eine Sternschnuppe.

Unwillkürlich blieb er stehen und heftete seinen Blick an die Stelle am Himmel, wo sie für einen winzigen Moment ihre Spur gezeichnet hatte. Wenn man eine Sternschnuppe sah, sollte man sich etwas wünschen, hiess es. Nur was sich wünschen? Und wie lange hatte man eigentlich Zeit, sich nach ihrem Verblassen noch wirksam etwas zu wünschen? War es - aus Sicht der Sternschnuppe gesehen - überhaupt nötig, einen Wunsch in Erfüllung gehen zu lassen, der zuerst überlegt werden musste? Eigentlich hatten doch nur jene Wünsche eine Erfüllung verdient, die einfach da waren, die aus der Tiefe kamen.

Naja, sein Augenblick für einen wirksamen Wunsch war mittlerweile sicher abgelaufen. Und überhaupt, wieso sollte ein kleiner, in der Erdatmosphäre verglühender Meteorit den Menschen Wünsche erfüllen? Eigentlich musste man froh sein, wenn der Meteorit so klein war, dass er verglühte, bevor er die Erdoberfläche erreichte und womöglich noch Schaden anrichten konnte.

Er senkte seinen Blick wieder auf den Weg vor sich und setzte erneut einen Fuss vor den anderen. Nach nur wenigen Schritten merkte er jedoch, dass er nicht mehr allein war. Hinter einer leichten Biegung des Wegs erschien ein anderer Spaziergänger, kam ihm entgegen. Sobald sie sich begegneten, würde er also kein Pionier mehr sein, nicht mehr als erster den Schnee durchstapfen. Schade. Schon hörte er das Knarren der fremden Schritte, und wenig später kreuzten sie sich.

„N'Abend", murmelte Tanner, ohne den anderen anzusehen. Dieser knurrte nur etwas Unverständliches und warf ihm einen schnellen Blick zu. Dann war er vorbei.

Doch plötzlich verstummte das Knarren der fremden Schritte.

"Tanner, du Sauhund!"

Er erschrak, blieb stehen und drehte sich schnell zum andern um.

"Wie bitte? Kennen wir uns?" fragte er und versuchte, den Mann zu erkennen. Doch der trug eine dicke Jacke mit Kapuze, und sein Gesicht lag im Dunkeln.

"Und ob wir uns kennen. Du bist schuld, dass ich sieben Jahre im Gefängnis verbringen musste. Gestern wurde ich entlassen und heute schon begegne ich dir. Welch Wink des Schicksals!"

Wer war der Mann? Er musste ein Kapitalverbrechen begangen haben und somit in seine Zuständigkeit gefallen sein. Die Länge der Haftstrafe deutete auf einen Totschlag hin.

"Immer wieder habe ich beteuert, dass es ein Unfall gewesen war", knurrte der Mann, "aber du hast so lange Beweise gefälscht, bis der Richter mich verurteilte."

Jaja, das behaupteten viele Täter. Wer könnte das sein? Ein grosser, schwerer Mann, mit dem er vor mehr als sieben Jahren zu tun hatte ...

"Und dafür", fuhr der Mann fort, "habe ich mir an diesen endlosen Tagen in der Zelle immer wieder geschworen, dafür werde ich mich an dir rächen, Tanner."

"Wenn Sie sich am Schuldigen rächen wollen, dann müssen Sie schon Hand an sich selbst legen. Sie haben die Tat begangen, und niemand sonst. Alles andere war die logische Folge davon."

"Ja, du warst schon immer so superschlau, Tanner. Ich bin halt dumm und kann nicht so weit denken. Und drum halte ich mich einfach an dich für meine Rache." Seine rechte Hand fuhr schnell in die dicke Winterjacke und kam wieder hervor. Mit einem grossen Messer.

Tanner hatte keine Gelegenheit, sich darüber zu wundern, dass jemand ein solches Messer auf einen Waldspaziergang mitnahm, da sah er schon, wie der andere mit der Rechten ausholte und die Klinge auf ihn niederfahren liess. Reflexartig blockte er den Schlagarm des anderen mit dem linken Unterarm ab und versetze ihm einen Handkantenschlag in die Ellenbeuge, der ihm das Messer aus der Hand schleuderte. Doch der andere schien damit gerechnet zu haben, denn seine geballte Linke fand den Weg an Tanners Schläfe, liess seinen Kopf zurückschnappen und brachte ihn ins Taumeln. Der Mann liess ihm keine Zeit, sich wieder aufzufangen, sondern stiess ihn rückwärts. Tanner strauchelte und stürzte rücklings zu Boden. Der andere war sofort auf ihm, packte ihn mit beiden Händen am Hals und drückte zu.

Tanner lag auf dem Rücken und versuchte sich mit Hieben und Tritten zu befreien. Aber seine Schläge verpufften wirkungslos in der dicken Kleidung des anderen. Die Augen weit aufgerissen, den Nachthimmel im Blick, wand er sich unter dem schweren Körper des Mannes. Und ausgerechnet in diesem Moment sah er wieder eine Sternschuppe am Himmel. Jetzt brauchte er nicht nach einem Wunsch zu suchen. Diese stahlharte Klammer um seinen Hals und der Kerl auf seinem Brustkasten sollten verschwinden. Sofort.

Aber sie verschwanden nicht, da konnte er sich wehren wie er wollte, der andere war zu schwer und zu stark. Knurrend und keuchend war er auf ihm und drückte zu. Langsam fühlte Tanner seine Kräfte erlahmen, eine Taubheit breitete sich in seinem Kopf aus, sein Blick trübte sich. Seltsam war, dass er meinte, hinter dem Kopf des anderen einen Lichtschein zu erkennen. Ein Lichtschein, der allmählich heller wurde. War dies das weisse Licht, von dem viele berichteten, die ein Nahtoderlebnis hatten? Das Licht, das einen freundlich empfing, wenn man in die andere Welt übertrat?

Das Licht wurde immer heller und heller - und explodierte in einem gewaltigen Krachen. Tanner erschrak. Gerne hätte er sich nach dem Grund für den Lärm umgesehen. Doch seine Kräfte schwanden.

Und dann war da ein dumpfer Schlag. Gleichzeitig lockerte sich der Griff an seiner Kehle. Endlich strömte wieder Luft in seinen Körper. Gierig sog er sie ein, stiess sie keuchend aus und sog erneut. Immer wieder und wieder, bis seine Gedanken und sein Blick klar wurden.

Noch immer lag der Angreifer auf ihm. Doch nun regungslos, sein Kopf war niedergesunken. Und - eigenartig - es roch nach Tannenwald. Viele kleine Nadeln stachen Tanners Hände und Gesicht. Ein Ast musste auf ihnen liegen. Und der war der Grund für seine Rettung. Dieser schwere Tannenast musste auf sie niedergestürzt sein, den anderen am Kopf getroffen und bewusstlos geschlagen haben. Zentimeterweise wand sich Tanner unter Mann und Ast hervor. Dabei wurde ihm allmählich bewusst, dass nicht dunkle Nacht herrschte, sondern dass da ein Licht war. Nicht mehr dieses weisse Leuchten. Es war ein gelbes Licht, flackernd wie ein Lagerfeuer. Tanner wandte seinen Kopf nach links und sah, dass es dort brannte. Ein ganzer Baum stand in hellen, prasselnden Flammen.

Endlich gelang es ihm, unter dem anderen hervor zu kriechen. Stöhnen rappelte er sich hoch. Der brennende Baum stand nur etwa zehn Meter entfernt und verströmt grosse Hitze. Weshalb begann eine stattliche Fichte so plötzlich zu brennen? Mitten in einer sternklaren Nacht? Ein Blitzschlag konnte es nicht sein - es war Winter, der Himmel wolkenlos. Da fiel ihm eine Mulde im Schnee auf, einige Meter neben dem brennenden Baum. Ein rötliches Glühen war darin, der Schnee rundum schmolz und stieg als zischende Dampfwolke in die Höhe. Tanner näherte sich der Mulde, blickte vorsichtig hinein. Sie durchmass etwa zwei Meter und war einen Meter tief. Auf ihrem Grund, halb im Boden steckend, befand sich ein unregelmässig geformter, rot glühender Brocken.

Ein Meteorit.

Eine Sternschnuppe, die zu gross gewesen war, um in der Atmosphäre vollständig zu verglühen. Sie hatte den Baum getroffen, einen seiner Äste abgeschlagen und so sein Leben gerettet, seinen tiefsten Wunsch erfüllt.

 

Damit das Wünschen half, brauchte es offenbar eine wirklich grosse Sternschnuppe.