Chlaushöck


Der Mond warf sein bleiches Licht durch die kahlen Wipfel der winterlichen Bäume und zeichnete gespenstische Schatten auf die weisse Leinwand des Dezembers. Die Kristalle des leichten Schnees auf den Ästen, im Dickicht des Unterholzes und auf den einsamen Wegen glitzerten wie kleine Diamanten. Dann und wann liess der lautlose Nordwind ein wenig von dem Schnee auffliegen, so leicht und locker war er letzte Nacht gefallen.

Ganz in der Ferne war das leise Knarren von schweren Schritten im knietiefen Schnee zu erahnen. Wie es allmählich näher kam, schälten sich die Schatten von zwei, in lange, schwere Kapuzenmäntel gehüllten Gestalten aus dem Mondlichtschatten. Gemessenen Schrittes zogen sie Spuren durch den Schnee der unberührten Waldstrasse. Ihr Atem war weisser Dampf in der eisigen Nachtluft.

Und dann ihre Stimmen. Beim Näherkommen liessen sich zuerst eine männliche und eine weibliche Stimme unterscheiden. Dann wurden ihre Worte verständlich. "Ich bin einfach mit der Rollenverteilung nicht einverstanden", sagte die weibliche Stimme, seltsam gedämpft durch den langen, schwarzen Bart.

"Das ist nun einmal eine Angelegenheit, liebe Anne, in der Gesichtsbehaarung eine wesentliche Rolle spielt", antwortete die männliche Stimme, sich einen Weg durch den dichten, weissen Bart suchend.

"Du bist eine Chauvinist, Georg", protestierte die Frau.

"Das ist Tradition, nicht Chauvinismus", gab der Mann zurück. "Erstens: Chlaus und Schmutzli sind Männerfiguren. Zweitens: Wir haben für diese beiden Rollen genau zwei Personen zur Verfügung. Dich und mich, eine Frau und einen Mann. Drittens: Der Chlaus hat die Sprechrolle, der Schmutzli schweigt. Also übernimmt der Mann die Chlausrolle und die Frau schweigt als Schmutzli. Ist doch logisch."

"Das soll logisch sein? Nein, es ist die konsequente Fortsetzung einer alten Unterdrückungsgeschichte. Der Schmutzli ist schwarz, wie die Sklaven aus Afrika. Heute ist die Sklaverei verboten, also nimmt man eine Frau. Voilà: Unterdrückung." Sie stiess eine empörte Dampfwolke aus. "Und dann diese Schuhe. Nagelschuhe!"

"Ja, ich weiss", antwortete Georg. "Seit Jahren treibt man Kampfsport, erwirbt sich damit einen katzenhaft geschmeidigen Gang - und nun das: tonnenschwere Nagelschuhe. Aber jetzt ist es zu spät für eine Änderung. Wir sind gleich da."

Hinter einer Wegbiegung, unter einer Gruppe von dunklen Tannen, kam eine niedrige Waldhütte mit ausladendem Dach in Sicht. Der Kamin rauchte, aus den Fenstern drang ein warmes gelbes Licht und versprach Gemütlichkeit. Auf dem Vorplatz parkte ein halbes Dutzend Autos. In der Hütte fand dieses Jahr der Chlaushöck der Kriminalpolizei statt. Georg Tanner, Chefermittler in Sachen Mord und Totschlag, hatte es getroffen, den Chlaus zu geben. Und seine Freundin Anne machte - unter gewissem Protest - den Schmutzli. Zusammen hatten Sie sich für jeden Kollegen launige Sprüche zu Recht gelegt und ein passendes, kleines Geschenk gesucht.

"Also, alles klar?", fragte Tanner seine Freundin.

"Jaja", maulte sie. "Ich schleppe den Sack, schaue grimmig und halte den Mund."

"Apropos Sack", sagte Tanner. "Der muss im Kofferraum von Peter Dieners Wagen sein. Ich hole ihn."

"Du, Georg." Anne klang nachdenklich. "Findest du nicht auch, dass es sehr still ist in der Hütte? Eigentlich müsste doch Lachen und Reden zu hören sein."

"Wahrscheinlich erzählt Peter Diener gerade einen seiner unzähligen Witze, die anderen sitzen wie paralysiert auf ihren Plätzen und hoffen, es möge bald vorüber sein." Er kicherte leise. "Nein, jetzt hab' ich's. Sie hocken in banger Erwartung des Chlauses auf ihren Stühlen und hoffen, dass die Schelte nicht allzu schwer wird, dass sie keine Fitze bekommen oder gar in den Sack gesteckt werden."

Leise öffnete er die Heckklappe des Wagens, nahm den vollen Sack sowie ein grosses Buch heraus und liess die Klappe wieder zuschnappen.

"Georg, da drin geht wirklich etwas Eigenartiges vor sich", flüsterte Anne. "Ich höre jetzt immer wieder eine einzelne Stimme, wie wenn jemand eine Ansprache halten würde, aber keiner lacht oder macht Zwischenrufe. Ich schaue mal hinein."

"Aber lass dich nicht sehen dabei", mahnte Tanner. Er hob sich den schweren Sack auf die Schulter, klemmte das Buch unter den Arm und ging langsam zur Eingangstür der Hütte. Anne stapfte durch den Schnee zu einem der Fenster, zog die schwarze Kapuze tief in die Stirn und schaute vorsichtig in die Hütte hinein.

"Scheisse", zischte sie und zog den Kopf zurück. Dann winkte sie Tanner herbei.

"Was ist los?", fragte er.

"Sieh selbs", sagte sie bloss und ging einen Schritt beiseite.

Er stellte den Sack in den Schnee, kam zum Fenster und lugte hinein. Zuerst hörte er die einzelne männliche Stimme. Sie klang barsch, wie bei einer Befehlsausgabe. Dann sah er ein paar von den Kollegen an den Tischen sitzen und mit ernsten Mienen in Richtung Eingang blicken. Tanner wechselte vorsichtig zur anderen Fensterecke. Von dort sah er den Mann.

"Verdammt", entfuhr es ihm. Er duckte sich und schaute zu Anne. "Ein Überfall", sagte er ungläubig. "Da überfällt tatsächlich einer die Kripo am Chlaushöck. Fuchtelt mit einer grossen Pistole und lässt sie Portemonnaie und Brieftaschen leeren."

"Man muss die Polizei rufen", flüsterte Anne und kircherte leise.

Er fand die Situation alles andere als lustig. Der Kerl machte nämlich den Eindruck, dass er wusste, was er tat und die Situation im Griff hatte.

"Wir müssen etwas unternehmen", flüsterte Tanner. Vorsichtig schaute er nochmals in die Hütte hinein, dachte einen Moment nach, duckte sich wieder und nickte Anne zu. "Komm."

Geduckt huschten sie zum Eingang der Hütte und pressten sich dort mit dem Rücken eng an die Wand.

"Was denn nun?", brummelte Anne.

"Wir überfallen den Kerl", flüsterte er. "Er steht direkt hinter der Tür, die sich nach innen öffnet. Ich ramme sie ihm in den Rücken, du stürmst mit mir hinein, und zusammen setzen wir ihn ausser Gefecht."

"Ach sooo", sagte Anne gedehnt. "Das ist ja ganz einfach. Dass der Kerl eine Riesenkanone in den Fingern hat, beeindruckt dich überhaupt nicht?"

"Nein", antwortete Tanner lakonisch, baute sich vor der Tür auf und ergriff vorsichtig die Klinke. Anne atmete tief durch, dann raffte sie den langen Mantel bis zur Hüfte hoch und machte sich bereit. Sie nickte.

Tanner drückte die Klinke ganz hinunter, dann stiess er die Tür mit aller Kraft auf.

Und traf auf keinen Widerstand.

Sein Schwung trug ihn in den Raum hinein, er stolperte und fiel dem Räuber direkt vor die Füsse.

Chlaus von unten und Räuber von oben starrten sich einen Moment an.

Diesen Augenblick nutzte Anne, schlug dem Kerl mit einem ersten Tritt die Pistole aus der Hand und verpasste ihm einen zweiten an den Kopf. Er ging zu Boden. Sofort stürzten sich drei Polizisten auf ihn und drehten ihm die Arme auf den Rücken.

"Kommt ein Nikolaus geflogen", hörte Tanner die Stimme von Peter Diener, als er sich aufrappelte, seinen roten Mantel sortierte, Bart und Kapuze zu Recht zog.

"Lach du nur", gab er zurück. "Ohne diesen fliegenden Chlaus wärt ihr wie die Schulbuben ausgeraubt worden"

"Richtig", gab Diener zu. "Aber unser eigentlicher Retter ist der Schmutzli. Den geschmeidigen Bewegungen und der überlegenen Kampfkunst nach zu schliessen, ist es aber eigentlich eine Schmutzli. Nicht wahr, Anne?"

Diese faltete ihre Kapuze in den nacken und zog den schwarzen Bart unters Kinn. "Ach, das waren doch nur zwei einfache Kick-Techniken", wollte sie abwiegeln. Aber mit einem Mal brandete überwältigender Applaus auf, Hochrufe erschallten, Pfiffe gellten durch die Hütte. Alle wollten Anne die Hände schütteln oder auf die Schulter klopfen.

Als sich die Begeisterung etwas gelegt hatte, sagte Diener: "Schade."

"Was, schade?", fragte Tanner.

"Schade, dass damit unser lustiger Abend zu Ende ist. Geplatzt, weil ein paar von uns den Kerl abliefern gehen müssen."

"Das kann ich nicht akzeptieren", protestierte Tanner. "Anne und ich haben in stundenlanger Arbeit Sprüche und Geschenke für jeden von Euch gesucht. Das soll alles vergebens gewesen sein?"

Betretenes Schweigen machte sich breit. Die Kollegen schauten sich ratlos an. Tanner betrachtete den immer noch am Boden festgehaltenen Räuber auf dessen Stirn such langsam die geröteten Abdrücke von Schuhnägeln zeigten, dort, wo ihn Annes Kick getroffen und niedergestreckt hatte.

"Naja, man könnte den Kerl festsetzen und später abliefern", schlug einer vor.

"Gute Idee", stimmte ein anderen zu. "Hat jemand Handschellen dabei?"

Alle schüttelten den Kopf. "Sie sind - wie die Dienstwaffen - in der Zentrale geblieben." Doch plötzlich grinste Diener breit.

"Georg, was macht der Chlaus mit bösen Buben?"

"Er gibt ihnen eine Fitze."

"Und mit den ganz bösen?"

"Die steckt er in den Sack."

"Genau."