Die Begegnung

 

Georg Tanner blinzelte in den wirbelnden Schnee, den der eisige Wind durch die nächtlichen Strassen trieb. In den blassen Lichtkegeln der Kandelaber glichen die treibenden Flocken wehenden Gardinen. Der weiche, pulvrige Schnee hüllte die Stadt in einen gnädigen akustischen Wattebausch.

Leise rieselt der Schnee. So wünscht man sich den Heiligen Abend, dachte Tanner bitter. Aber den müssten auch Polizisten eigentlich gemütlich im Kreis der Familie vor einem kerzengeschmückten Tannenbaum verbringen - und nicht auf der Verfolgung eines flüchtigen Totschlägers. Zu Fuss!

Peter Diener, sein Kollege von der Sektion Leben der Kriminalpolizei, rannte mit einigen Metern Abstand vor ihm. Erstaunlich, wie schnell der beleibte Diener auf den Beinen war. Gut, Peter war auch ein Jahr jünger. Aber Tom Schmid, der vor ihnen im Schneetreiben floh, war noch jünger und hatte schon einen erheblichen Vorsprung. Immerhin konnten sie ihn auf der schnurgeraden Münchensteinerstrasse trotz der dichten Flocken noch sehen.

Die Gegend war menschenleer. Nur einige einsame Autos waren unterwegs. Hin und wieder fuhr eine Strassenbahn. Die Signallichter des Basler Bahnhofs glommen matt im dichten Schneefall. Nur das laute Schnaufen der Männer war zu hören. Schmids Vorsprung wuchs. Sie durften ihn nicht verlieren - man denke nur an die hämischen Schlagzeilen in der morgigen Zeitung. Natürlich könnte man ihn mit einem Schuss stoppen. Aber das wäre unverhältnismässig und würde zu noch unerfreulicheren Titeln in der Zeitung führen. Drum blieb ihnen nichts anderes übrig als laufen, so schnell es Lunge und schmerzende Muskeln erlaubten.

Dabei wäre diese Rennerei gar nicht notwendig gewesen. Wenn die Kollegen von der Streife Tom Schmid im Massagesalon so festgesetzt hätten, wie es Vorschrift war. Und wenn Schmid von Anfang an gemerkt hätte, dass in diesem Massagesalon keine speziellen Dienste angeboten wurden. Und wenn der Eigentümer des Salons nicht gemeint hätte, mit etwas Karate könnte er diesem Kunden schon beikommen. Und wenn Tom den Mann dann im Streit nicht totgeschlagen hätte. Und wenn der Streifenwagen auf Schmids Verfolgung nicht in den Leitungsmast der Strassenbahn gerutscht wäre ... und wenn, und wenn, und wenn ...

Es änderte alles nichts. Diener und er rannten schnaufend hinter Schmid her. Der erreichte nun die Tramhaltestelle "M-Parc", die bis vor kurzem noch "Wolfgottesacker" geheissen hatte, benannt nach dem alten Basler Friedhof. Der erstreckte sich auf der linken Seite der Strasse, angrenzend an das Bahngelände. Schmid floh in Richtung Haupteingang des Friedhofs. Der war um diese Zeit sicher geschlossen, überlegte Tanner. Das bot vielleicht die Möglichkeit, Schmid zu stellen.

Der aber rannte direkt auf die über zwei Meter hohe Friedhofsmauer zu, sprang hoch, packte die Mauerkrone, zog sich trotz des frischen Schnees blitzschnell hinauf und war längst dahinter verschwunden, als die Polizisten die Mauer erreichten.

"Wir müssen auch hinüber", sagte Tanner und erklomm die Mauer - schwer-fälliger als Schmid. Mit heimlicher Befriedigung stellte er fest, dass Peter Diener noch mehr Mühe hatte beim Klettern. Er reichte ihm die Hand, zog ihn hoch und schaute dann hinter die Mauer. An die Innenseite geschmiegt, reihten sich alte Grabsteine, die einen höher, die anderen niedriger. Die einen kunstvoll gestaltet, andere schlicht. Hier ruhten die Verstorbenen vieler alter Basler Familien.

"Sollen wir ihn im Friedhof verfolgen?", fragte Diener schnaufend.

"Haben Sie etwa Schiss?" Tanner grinste ihn an.

"Naja ... es ist sehr dunkel. Und diese ... Schatten."

"Sie haben Schiss. Auf in die Geisterstunde!", lachte Tanner und sprang hinunter.

Diener atmete tief ein und folgte. Sie schauten sich um. So dicht fielen die Flocken, dass sie kaum zwanzig Meter weit sehen konnten. Die Grabreihen waren unter den düsteren Schatten der alten, hohen Bäume kaum zu erahnen. Schmid war verschwunden. Nur Fussabdrücke bewiesen, dass er hier gewesen war.

"Wir folgen den Spuren", entschied Tanner und rannte los.

"Ich kann bald nicht mehr", jammerte Diener und liess die Schultern sinken.

"Faule Ausrede. Wir müssen Tom kriegen. Denken Sie an die Schlagzeilen."

Das schien Diener zu überzeugen. Jedenfalls hörte Tanner schon bald die Schritte seines Kollegen hinter sich, die im frischen Schnee leise knarrten. Er schaute nicht zurück, sondern hielt seinen Blick auf den Boden gerichtet, auf Schmids Spuren. Sie verliefen zuerst in der Hauptallee, bogen anschliessend auf einen Seitenweg ab. Dann auf den nächsten. Und auf einen weiteren. Tanner war ganz auf die Fussabdrücke konzentriert. In seinen Augenwinkeln glitten die Schemen der zahl- und namenlosen Grabsteine vorbei. Bis er etwas Seltsames sah und anhielt.

"Sehen Sie das, Diener?", keuchte er und deutete auf den Boden. Sein Kollege stellte sich schwer atmend neben ihn und schaute auf die Spuren.

"Das kann nicht sein", sagte er und schüttelte langsam den Kopf. Von einem Meter auf den anderen, gab es plötzlich zwei Spuren neben einander. Beide führten tiefer in den Friedhof hinein, aber auf verschiedenen Wegen.

"Und nun?", fragte Diener. "Aufgeben?"

"Das hätten Sie wohl gern", lachte Tanner. "Ich habe keine Ahnung, was hier los. Aber wenn wir Tom schnappen wollen und nicht wissen, welche Spur seine ist, müssen wir uns eben trennen. Geht es denn für Sie, so ganz allein?"

"Ich links, Sie rechts?"

"Los geht's". Tanner heftete wieder den Blick auf den Boden und folgte der Spur nach rechts, hinein in den dunklen, stillen Friedhof. Wieder kam er zu einer Abzweigung. Und zur nächsten. Immer weiter führte die Spur, und es schneite und schneite. Immer dichter standen die Bäume, immer düsterer wurden die Grabsteine.

Ein dumpfer Schrei durchschnitt die Stille.

Er erschrak, rutschte auf dem frischen Schnee und kam taumelnd zum Stand. Er wischte sich die feinen Schneeflocken aus den Augen und versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Alles war grau - und wieder still.

Dann erneut ein Schrei - es war Dieners Stimme. Sie kam aus der Richtung, wohin die Spur führte. Tanner rannte los, nur noch mit halbem Auge auf die Fussabdrücke achtend. Dennoch sah er nach einer gewissen Strecke, dass sie unvermittelt endeten. Wieder hielt er rutschend an. Vor ihm schälten sich die dunklen Schatten zweier Menschen aus dem Schneetreiben.

"Wuoahhhh", schrieen sie auf.

"Sind Sie das, Herr Tanner?" Das war Peter Dieners Stimme. Dann musste die Person neben ihm Tom Schmid sein. Er hatte ihn also erwischt.

"Natürlich bin das ich. Was ist denn los?" Tanner ging auf die beiden zu.

"Da war ... da ... war ...", stammelte Diener.

"Da war eine verdammtes Gespenst", keuchte Schmid. "Einfach ... grauenvoll."

"Ach ja", sagte Tanner und lächelte schief. "Ein Gespenst."

"Verbranntes Fleisch hing ihm in Fetzen von allen Knochen", flüsterte Schmid. "Und es trug einen uralten Helm auf dem Kopf. Wie aus dem Mittelalter."

"Es kam genau aus Ihrer Richtung, Herr Tanner", sagte Diener. "Und dann ist es zu diesem Grabstein geschwebt und dahinter verschwunden."

"Sosoo", machte Tanner und verschränkte die Arme. "Dieses grauenhafte Gespenst schwebt also einfach so davon. Was ist denn das für ein Grabstein?"

Tanner ging näher, holte ein Feuerzeug aus der Jackentasche und zündete es an. Eine Inschrift wurde auf dem grauen Stein sichtbar. "Er sieht neu aus ... und da steht ... ach so, das ist kein Grab- sondern ein Gedenkstein."

"Was steht drauf?", drängte Diener.

"Dem Gedenken der achtzehn Kriegsgefangenen aus der Lombardei, die am Heiligen Abend 1474 auf der Richtstätte Gellert verbrannt wurden."

"Scheisse", presste Tom Schmid zwischen den Zähnen hervor.

"Genau so sah der Kerl vorhin aus", beteuerte Diener und schaute Tanner aus grossen Augen an. "Wie ein verbrannter mittelalterlicher Soldat."

"So ein Quatsch." Tanner glaubte nicht an Gespenster. Allerdings: Die Sache mit der verdoppelten und dann unvermittelt endenden Spur war schon eigenartig. Und beide Männer hatten eine Gestalt beschrieben, die zum Gedenkstein passen würde.

"Da ... ist etwas", flüsterte Tom und deutete neben den Gedenkstein.

Tanner schaute hin. Etwas Dunkles lag halb hinter dem Stein. Er bückte sich. "Ein eiserner Helm", sagte er leise. "Verbeult, verrostet."

"Den hatte das Gespenst auf dem Schädel", meinte Diener dumpf.

Tanner schluckte. Dann fiel sein Blick auf Schmid. "Verdammt, Diener. Haben Sie den Kerl immer noch nicht in Handschellen gelegt?"

Die beiden schraken hoch. Schmid stiess Diener zu Boden und rannte weg.

"Ich Idiot", stöhnte Diener, im Schnee sitzend.

"Los, wir müssen ihn erwischen", rief Tanner und rannte hinter Tom her. Diener stand mühsam auf, klopfte sich den Schnee von der Hose und folgte ihm. Trabte mit zusammengekniffenen Augen durch die Reihen düsterer Gräber, unter den mächtigen Ästen der alten Bäume hindurch, hinein ins dichte Schneetreiben. Seine füllige Gestalt verschwand langsam in der Dunkelheit, das Knarren seiner Schritte im Schnee wurde leiser, verhallte.

Federleichte Flocken fielen auf den verbeulten, rostigen Helm, deckten ihn zu, bis er darunter verschwand, als hätte es ihn nie gegeben.