Steinereien

Prolog 

 

Es war ein ganz gewöhnliches Besprechungszimmer, wie es Dutzende gab im Institut Fédéral pour la Recherche Nucléaire, kurz als FERN bezeichnet. Sieben Personen sassen um den abgenutzten ovalen Tisch. Bis auf einen waren alle hochrangige Nuklearphysiker mit komplizierten akademischen Titeln und seitenlangen Publikationslisten, die seit vielen Jahren am FERN tätig waren.

Professor Charles Pickens, ein beleibter, rotgesichtiger Amerikaner, leitete die Sitzung.

„Liebe Kollegen. Hier ist der Mann, der uns möglicherweise die Lösung für unser Problem - oder besser gesagt einen Weg zur Lösungsfindung - aufzeigen kann. Reden wir nicht lange um den Brei. Ich geben Herrn Weingarter das Wort."

Weingarter erhob sich und stellte sich so hin, dass ihn alle sehen konnten. Er war Schweizer und Psychiater. Seine schlanke, hoch gewachsene Gestalt stand in markantem Gegensatz zu den von jahrzehntelanger, bewegungsarmer Laborarbeit gezeichneten Körpern der anwesende Forscher.

„Meine Herren, die Kernfusion. Obwohl Sie alle seit Jahrzehnten mit Hochdruck daran arbeiten, sie für die friedliche Nutzung zu erschliessen, ist der Durchbruch noch nicht gelungen. Sie stecken immer noch mehr Energie hinein als dann wieder rauskommt. Trotz kilometerlangen Tunnels mit millionenteuren Magneten und Detektoren kommen Sie nicht hinter das letzte Geheimnis. Und nun suchen Sie Hilfe von - sagen wir einmal - höherer Stelle."

„Jaja, das wissen wir zur Genüge", sagte Professor Jean-Pierre Lacoste. Der Franzose, der nie sein Berèt von den fettigen, schwarzen Haaren nahm, klopfte mit den Fingern einen schnellen Rhythmus auf dem Tisch. „Erzählen Sie besser, welchen Weg wir beschreiten sollen."

Weingarter lächelte und nickte langsam.

„Sie sind Kernphysiker, auf der Suche nach den letzten Geheimnissen des Universums. Sie stossen bei dieser Suche an Grenzen, die sie - wenn auch widerwillig - an das Werk von Mächten denken lassen, welche sich nicht mit wissenschaftlichen Begriffen erfassen lassen. Sie ertasten den Beginn des Göttlichen." Er liess seinen Blick über die Gesichter der Anwesenden wandern. Keiner widersprach. „Das Erleben göttlichen Wirkens, die Bewältigung von Manifestationen göttlicher Kräfte führte in der Vergangenheit zur Entstehung von Religionen. Viele der bekannten Religionen berichten über Vorgänge, die sich der damalige menschliche Geist nicht erklären konnte. Die Wurzeln der Religionen liegen oft in solchen tatsächlichen Ereignissen. Das Erlebte wurde mitsamt seiner göttlichen Interpretation über lange Zeit mündlich weitergegeben. Dabei ausgeschmückt, verändert, umgedeutet." Weingarter atmete tief ein. „Religion ist Macht, das wissen wir alle. Nicht selten wurden religiöse Dogmen mit dem Ziel der Erweiterung der Macht einer bestimmten herrschenden Gruppe über die Gläubigen festgesetzt. Dogmen, die mit dem Ursprung der betreffenden Religion praktisch nichts mehr zu tun hatten. Das ging oft so weit, dass das ursprüngliche Körnchen Wahrheit unter den Bergen von Riten, Dogmen und Formalismen nicht mehr zu erkennen war."

Professor Vincente Caprio, ein glatzköpfiger Italiener, erhob sich von seinem Stuhl. „Mir reicht es, ich höre mir dieses Geschwafel nicht länger an. Meine Arbeit ist in einer kritischen Phase. Ich werde dort dringender gebraucht als hier."

„Herr Kollege, geben Sie unserem Gast noch ein paar Minuten", sagte Professor Pickens.

„Diese längst bekannten Gemeinplätze helfen uns nicht, Kollega. Ich will etwas Neues hören, etwas das uns weiterbringt."

„Das werden Sie, verehrter Professor", sagte Weingarter. „Ich komme gleich zum Kern."

„Na gut. Aber lange warte ich nicht mehr."

Weingarter nahm den Faden wieder auf.

„Die grossen Religionen unserer Zeit weisen Merkmale auf, welche auf gemeinsame Wurzeln hindeuten. Diese sind im Sumpf der Zeit verschwommen. Wenn wir diesem Kern der Religionen auf die Spur kommen wollen, müssen wir möglichst ursprüngliche Aufzeichnungen der göttlichen Manifestationen auswerten, also die ältesten schriftlichen Dokumente suchen und deuten."

„Ich bezweifle, dass ein schweizer Psychiater der Richtige für dieses Vorhaben ist." Professor Wilfried Märgel lehnte sich im Stuhl zurück und zwirbelte seinen Schnurrbart. „Wie sollten ausgerechnet Sie an solch altes und sicher wohl behütetes Material kommen, und wie sollten Sie die alten Sprachen dann auch noch korrekt entziffern und deuten können? Ich glaube, wir verschwenden hier unsere Zeit."

„Es ist gar nicht notwendig, dass ich an das Originalmaterial komme. Es genügt, publizierte Forschungsresultate zu lesen. Sie wissen selbst, dass jeder Wissenschaftler darauf angewiesen ist, die Ergebnisse seiner Arbeit so schnell wie möglich zu veröffentlichen. Das gilt auch für Historiker und Religionswissenschaftler. Das Entscheidende ist, in der Flut von Publikationen die Wesentlichen zu finden und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen."

„Auch das bedingt schon profunde Kenntnisse im betreffenden Wissensgebiet. Verfügen Sie denn überhaupt darüber?", unterbrach der englische Professor Daniel Farnborough.

„Ich befasse mich seit fünfundzwanzig Jahren mit dieser Materie. Heute bin ich sicher, das grundlegende Dokument für die Lösung Ihres Problems erkannt zu haben. Ist Ihnen „Prinz Asnas Reise" bekannt?"

Die Anwesenden schüttelten stumm die Köpfe.

„Vor etwa dreissig Jahren wurden diese Aufzeichnungen gefunden. Eine Zeit lang war die Entdeckung überall in den Medien. Wie das mit wissenschaftlichen Sensationen aber oft geht, sie verschwinden so schnell aus dem Blick der Öffentlichkeit wie sie auftauchen. Konkret ging es um den Fund von alten, fast perfekt erhaltenen Tontafeln im östlichen Afrika. Wo, wie wir heute wissen, die Wiege der Menschheit liegt. Von dort aus hat der Mensch den Rest der Welt erobert."

„Wollen Sie etwa im afrikanischen Dschungel nach dem Ursprung der Welt suchen?" fragte Professor Caprio.

„Das wird nicht nötig sein. Ich verfüge über klare Hinweise, dass die Lösung Ihres Problems sich in Europa befindet."

„Und was ist denn nun die Lösung unseres Problems?"

„Der heilige Gral." Weingarter lächelte.

„Ein alter Trinkbecher. Der sich seit Jahrhunderte im Vatikan befindet? Sollen wir im Vatikan einbrechen, den Becher stehlen, einen bestimmten Schnaps daraus trinken und dann kommt uns die Erleuchtung?" Professor Lacoste lachte. „Dafür sind wir hierher gekommen? Charles, es enttäuscht mich zutiefst, dass Sie uns deswegen hierher gerufen haben."

„Mein lieber Jean-Pierre. Lassen wir Herrn Weingarter doch weiterreden."

Dieser nickte und fuhr mit seinen Erklärungen fort. „Der heilige Gral ist mitnichten ein Trinkgefäss. Das ist ein Irrtum, der auf die Jahrhunderte lange mündliche Überlieferung zurückzuführen ist. Ich werde Ihre Zeit nicht damit verschwenden, dass ich Ihnen die Geschichte dieses Irrtums im Detail erkläre. Tatsache ist, dass der heilige Gral nichts anderes ist, als der Zugang zur Welt der Götter."

„Die Welt der Götter? Meinen Sie das Jenseits?" Professor Märgels Haltung hatte sich schlagartig versteift. „Müssen wir sterben, um den Schlüssel zur Kernfusion zu erhalten? Und wie sollen wir das - im Erfolgsfall - unseren diesseitigen Kollegen dann übermitteln? Sind Sie ein Medium, das Kontakt zu Verstorbenen herstellen kann?"

„Bevor ich mir hier den Mund fusselig rede, gebe ich besser eine schriftliche Zusammenfassung dessen ab, was die alten Tontafeln beschreiben."

Er verteilte einige Blätter und die Professoren studierten den Text. Einige Minuten herrschte völlige Ruhe. Weingarter verharrte, wo er stand, die Hände hinter seinem Rücken gefaltet, und schaute von einem Forscher zum anderen.

Als erster meldete sich Professor Lundquist, ein Schwede mit wildem blondem Haarschopf.

„Mir kommt im Zusammenhang mit dieser Götterwelt der Olymp der Griechen in den Sinn."

„Das ist die am besten bekannte Überlieferung des alten Wissens", stimmte Weingarter zu. „Wenngleich sie natürlich auch schon markante Abweichungen gegenüber den Ursprüngen aufweist. Zum Beispiel war bereits zur Zeit der Griechen das Wissen um die Bedeutung und die Lage des Tores Graul verschüttet. Es war lediglich noch ein vages Wissen vorhanden, dass es möglich war, mit den Göttern in Kontakt zu treten. Dies wurde in Form des Orakels von Delphi in die griechische Mythologie aufgenommen."

„Mit dem Niedergang der griechischen Hochkultur ging auch dieses Restwissen dann verloren?", wollte Professor Märgel wissen.

„Es lebte zunächst in der römische Mythologie noch weiter, in wiederum abgeänderter, verfremdeter Form. Das Christentum verdrängte dieses Restwissen dann aber endgültig aus dem Bewusstsein der breiten Bevölkerung. Im Untergrund allerdings lebte schon vor den Griechen eine weitgehend ursprüngliche Version des alten Wissens weiter. Dieses wurde innerhalb einer stark abgeschotteten Gruppierung gehütet und weitergegeben."

Professor Farnborough beugte sich vor. „Diejenigen, die noch über das alte Wissen verfügten, hatten doch ein unermessliches Machtpotenzial in den Händen. Wieso nutzten sie es nicht?"

„Sie haben im verteilten Text von den „Gotteskriegen" gelesen. Deshalb ging der Kontakt zur Menschheit allmählich verloren. Es wurde immer schwieriger, mit den Göttern zu kommunizieren. Und wegen der üblichen politischen und religiösen Wirren auf der Erde ging der freie Zugang zum heiligen Gral verloren. Die Wissenden waren gezwungen in den Untergrund zu gehen."

Und irgendwann sind diese Wissenden ganz untergegangen und verschwunden?" fragte Farnborough weiter.

„Das wissen wir nicht mit Sicherheit. Tatsache ist aber, dass aus den letzten Jahrhunderten keine Aufzeichnungen darüber bekannt sind."

„Und es haben keine Besuche in der Götterwelt mehr stattgefunden?", fragte Märgel.

„Auch das wissen wir nicht. Aber man kann sich natürlich schon fragen, ob die grossen Erfindungen unserer Zeit wirklich ausschliesslich dem menschlichen Geist entsprungen sind. Holte sich vielleicht Albert Einstein die Ansätze zu seinen Relativitätstheorien bei göttlichen Beratern? Oder andere grosse Forscher, Erfinder, Politiker. Die meisten kannten sich untereinander. Gehörten sie womöglioch dem Geheimbund an, der das Wissen um das Tor Graul gehütet und weitergegeben hat?"

„Jetzt hören Sie aber auf." Professor Caprio schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Solche Geheimbünde geistern schon genug durch die heutige Trivialliteratur. Tempelritter, Freimaurer, Prieurée de Sion und wie sie alle heissen sollen. Damit können Sie uns nicht überzeugen. Wir sind Wissenschaftler, wir wollen Beweise sehen."

„Die werde ich Ihnen sogleich vorlegen. Seit vergangener Nacht verfügen wir nämlich über den ersten konkreten Hinweis auf die Lage des heiligen Grals, oder besser, des Tores Graul."

„Was heisst hier „wir"? Wer sind „wir"? Bisher war immer nur von Ihnen allein die Rede. Das befremdet mich sehr. Was werden wir noch alles erfahren, was hinter Ihnen steckt, Herr Weingarter?" Lacostes blaue Augen blitzten unter dem Berét hervor.

„Ich habe einen Gehilfen, der mich bei meinen Nachforschungen unterstützt. Ein absolut verlässlicher Mann, der mir vollständig ergeben ist."

„Na gut. Wo sind denn nun ihre Beweise? Können wir sie sehen?", drängte Professor Lundquist.

„Auf der letzten Seite der Ihnen vorliegenden Unterlagen sehen sie die Fotografie eines alten Steinfrieses. Seine Aussage wird sich Ihnen kaum ohne Weiteres erschliessen. Ich hingegen kann es auf Grund meiner Erfahrung deuten. Ich möchte Sie nur auf eines der Symbole aufmerksam machen. Es ist mit einem Kreis bezeichnet. Sie erkennen ein Symbol, welches an einen Triumphbogen erinnert. Dies ist das alte Symbol für den Zugang zur Götterwelt, für das Tor Graul. Man findet es in zahlreichen alten Schriften in auffällig unveränderter Form."

„Wo befindet sich dieses Steinfries?" fragte Professor Caprio.

„In Basel."

„In Basel?" echote Professor Lundquist. Die Forscher schauten einander mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Sie verstehen, dass ich Ihnen im Moment keine näheren Angaben zum Ort mache. Wenn Sie mir den Auftrag übertragen, den heiligen Gral für Sie zu finden, werde ich Ihnen am Ende selbstverständlich eine vollständige Dokumentation erstellen."

„Wie viel verlangen Sie für Ihre Dienste?", wollte Professor Lacoste wissen.

„50'000 Franken."

Professor Caprio atmete tief ein. „Das scheint mir verdächtig wenig. ich vermute, dass da noch mehr dahinter steckt." Die Forscher schauten den Psychiater an.

„In der Psychiatrie gibt es viele offene Fragen, ungelöste Problem, unheilbare Krankheiten. Auch für mich ist der Zugang zur Götterwelt eine grosse Verlockung. Die 50'000 Franken sollen lediglich meine Unkosten decken. Aber so viel wird tatsächlich nötig sein. Denn die Suche muss absolut geheim bleiben. Immerhin wird die Entdeckung des Tores Graul alle Weltreligionen in ihren Grundfesten erschüttern. Es wäre absehbar, dass uns alle erdenklichen Hindernisse in den Weg gelegt würden. Auch eine Gefahr für unser Leben wäre nicht auszuschliessen."

Charles Pickens erhob sich. „Meine sehr verehrten Kollegen. Geben wir Herrn Weingarter eine erste Rate der von ihm verlangten Mittel, mit dem Auftrag, uns über seine Nachforschungen auf dem Laufenden zu halten. Weitere Mittel werden gesprochen, wenn entsprechende Resultate vorliegen."

 

Liebe Besucher

Sie haben sicher gemerkt, was die Grundidee der Geschichte Steinereien ist. Es soll eine Parodie auf die vielen Grals- und Geheimbund-Geschichten werden, welche in den letzten Jahren in der Literatur und im Kino aufgetaucht sind. Indianan Jones und der Da Vinci Code sind da nur zwei Beispiele. Aber es soll keine Abenteuer-Geschichte werden, sondern ein richtiger Krimi. Also packen wir's an. Lesen Sie die ersten Blätter aus Tanners Notizbuch und entscheiden Sie, wie es weiter gehen soll.

Wer sich übrigens näher für "Prinz Asnas Reise" interessiert, kann unter dem Link lesen, was die FERN-Forscher von Weingarter vorgelegt bekamen.